München und seine bekannten und unbekannten Bewohner: Wir haben für Sie zehn Belletristik- und Sachbücher ausgesucht, mit denen Sie die Stadt und ihre Geschichte vielleicht noch einmal anders erleben. Egal ob aus der Sicht eines Revolutionärs oder eines Taxifahrers. Wir wünschen viel Spaß beim Durchschauen.
Zehn Bücher: München und MünchnerInnen
1) Wolfgang Hildesheimer – »Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts«
Stephan Braese – »Jenseits der Pässe – Eine Biografie«
Er traf sich in der Stadt mit Adorno und dem Lektor Friedrich Podszus zum Essen und scherzte über Wammerl, »streng koscher, vom Oberrabbinat selbst für Minderjährige zugelassen«. Mit den Münchnern sei während der Oktoberfestzeit nichts anzufangen; sein eigener Besuch dort war »a Mordsgaudi«, mit dem besten Backhendl, das er je gegessen habe. Er las in diesen Jahren zweimal im Tukan-Kreis, und er versäumte kein Konzert der »musica viva«. Mit dem damaligen Leiter Karl Amadeus Hartmann war er befreundet, die Briefe fließen über von Namen aus dem Musikleben der frühen fünfziger Jahre – er trifft Carl Orff, Bruno Maderna, Luigi Nono, hört Strawinsky, Honegger, Milhaud, Hindemith, you name them … – Sven Hanuschek
2) Adelheid Schmidt-Thomé – »Vergessene Münchnerinnen«
In kleinen, mit Porträts illustrierten Kapiteln zeichnet sie die Biografien von Frauenrechtlerinnen, rebellischen Liebenden, Schauspielerinnen, Sängerinnen und vor allem Schriftstellerinnen nach, darunter Elsa Bernstein, die Autorin des Märchendramas »Königskinder«, das Humperdinck als Oper vertonte, und die 1942 im KZ Theresienstadt gestorbene Carry Brachvogel, deren »geistvolle Bosheit« Rilke pries und deren Romane mittlerweile wieder aufgelegt werden. – Petra Hallmayer
3) Jan Bachmann – »Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen«
Die fantasievolle, respektlose und manchmal pubertäre Bildsprache irritiert, aber nicht lange. Nach wenigen Seiten ist klar, wie stimmig Mühsams und Bachmanns Erzählweisen zusammengehen: Da ist die Selbstironie, der Spaß am knalligen Stil, die leicht surrealistischen Bild- und Gedankenentgleisungen und nicht zuletzt die unstete Figur Mühsam mit der extrem langen Nase, die Bachmann nach dem Vorbild zweier Selbstkarikaturen des Anarchisten entwickelt hat. – Cornelia Fiedler
4) Sonja Lerch – »Der Abend kommt so schnell«
Der Roman konzentriert sich auf die Spanne von Ende Januar bis zum Tod Sonjas. In Rückblenden durchlebt sie die Vergangenheit: Familienalltag in Warschau, Kämpfe in Odessa, Untergrundarbeit mit Attentatsplanungen und Waffenschmuggel, bürgerlich-akademisches Heim in München. Die Autorin zeichnet Sonjas Lebenswelten anschaulich, lebendig, lokal atmosphärisch. Und psychologisch einfühlsam – wenn Sonja die Geliebte ihres Mannes entdeckt. – Gabriella Lorenz
5) Christoph Poschenrieder – »Der unsichtbare Roman«
Er hat es wieder mal geschafft: Gustav Meyrink (1868–1932), gescheiterter Bankier, Satiriker, augenzwinkernder Okkulter, Yogi, Dickens-Übersetzer und Romancier (»Der Golem«) hat in Christoph Poschenrieder einen so amüsanten wie reflektierten Erzähler gefunden, der dem brillanten und ein bisschen zwielichtigen Wiener erlegen ist. Poschenrieder präsentiert Meyrinks Leben anhand einer Unglaublichkeit. – Sven Hanuschek
6) Judith Kemp – »Ein winzig Bild vom großen Leben«
Der Musik- und Theaterwissenschaftlerin gelingt es, Münchens erstes Kabarett nicht nur so vollständig wie möglich zu dokumentieren, zu analysieren und zu erklären, sondern auch dem »spezifischen Wesen dieser Bühne auf den Grund zu gehen«. Seitdem »Die Elf Scharfrichter« 1901 mit einer »Galaeröffnungsexekution« begründet wurden, strömte die Münchner Boheme in das kleine Theater in der Türkenstraße 28, das bald zu einem festen Bestandteil der damaligen Schwabinger Kunstszene wurde. – Stefan Frey
7) Frank Schmolke – »Nachts im Paradies«
»Nachts im Paradies« heißt Frank Schmolkes neue Graphic Novel. Sie spielt im reichen, satten München, wie auch schon das Comic-Debüt des Grafikers 2013 mit dem Titel »Trabanten«. Schmolke fährt selbst seit 30 Jahren Taxi in dieser Stadt, in den letzten Jahren allerdings seltener, dank seines Erfolgs als Grafiker. In seiner Geschichte kondensiert er seine Berufserfahrungen in drei Nächte. Der Autor weiß, dass diese Stadt nicht so paradiesisch ist für einen, der manchmal die Nacht durcharbeitet und oft genug doch keine 100 Euro verdient. Und bald lässt er es auch die Leser seines Comics wissen: München ist nur für diejenigen ein Paradies, die es sich leisten können.
8) Uli Oesterle – »Vatermilch«
Die Wittelsbacherbrücke taucht in Oesterles Graphic Novels regelmäßig auf. In seinem neuen Werk »Vatermilch« ebenso wie im preisgekrönten Band »Hector Umbra« von 2003. »Das Thema Obdachlosigkeit hat mich schon immer beschäftigt. Und die Wittelsbacherbrücke bietet ja traditionell vielen Menschen eine Wohnung. Ich mag das hier«, sagt Oesterle, während er zu den drei Bögen blickt, die das Hochwasserbett und die Isar überbrücken. Der Vater des gelernten Grafikers war ein schwerer Alkoholiker, der das Geld der Familie in Kneipen und beim Glücksspiel verschleuderte. Als Oesterle sieben Jahre alt war, machte er sich aus dem Staub. – Günter Keil
9) Max Schönmüller – Erst fallen Bäume
Ungemein spannend beschreibt Schönmüller die Eskalation, taucht psychologisch tief in die unterschiedlichen Charaktere der fünf Protagonisten ein. Und er schildert mit herrlich ironischem Unterton die Anstrengungen der Polizei, der »Öko-Terroristen« habhaft zu werden, bis sich Alex, eingekesselt vom SEK, nach seiner letzten Auto-Abknall-Aktion im Windrad gegenüber der Allianz-Arena verschanzt und Matthias in der U-Haft in Stadelheim landet. – Hannes S. Macher
10) Hans Pleschinski – »Am Götterbaum«
Pleschinskis Kniff ist ebenso einfach wie bestechend. Er nimmt den abgedroschenen Ausspruch »Der Weg ist das Ziel« ernst. Legt sie der 63-jährigen Stadträtin Antonia Silberstein in den Mund und schickt sie gemeinsam mit der Monacensia-Bibliothekarin Therese Flößer und der Schriftstellerin Ortrud Vandervelt zu Fuß von der Innenstadt zur ehemaligen Heyse-Villa, wo einst Theodor Fontane und Henrik Ibsen ein und aus gingen. Könnte man die unter Denkmalschutz stehende, vermietete Immobilie in der Maxvorstadt nicht in ein Heyse-Zentrum und somit in einen kulturellen »Leuchtturm« umwandeln, der weit über die Stadt ausstrahlt? »Am Götterbaum« setzt Kulturpolitik und Literaturbetrieb mit präzise platzierten Floretthieben zu, die bestechend komisch sind. – Florian Welle
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