Spannend, komisch, traurig, politisch wach und berührend offen: Die Tagebücher des Münchner Dichters, Anarchisten und Mitbegründers der Räterepublik Erich Mühsam erscheinen bis 2019 endlich in Buchform. Jetzt legt Jan Bachmann mit einem fulminanten Comic nach.

Anarchie und Abhängigkeit, das verträgt sich leider gar nicht. Doch der chronisch unterfinanzierte Autor und Freigeist Erich Mühsam hätte das Jahr 1910 ohne familiäre Finanzspritzen kaum überlebt. »Qualvoll«, schimpft er in seinen Tagebüchern aus dieser Zeit, sei ein Familientreffen in Berlin verlaufen. Über den Vater heißt es dort knapp, »wir gehen vorsichtig miteinander um, vermeiden es, allein zu sein«. Das lässt Raum, zwischen den Zeilen zu lesen, dort wo das Unbehagen wohnt. Was, wenn es doch passierte, das gefürchtete Alleinsein mit dem Erzeuger? Genau das hat jetzt der Comiczeichner Jan Bachmann in leuchtenden Farben ausgemalt: Wir sehen eine breite Berliner Allee aus der Vogelperspektive, gelber Laternenschein, Erich Mühsam vorneweg, der Vater mit Abstand hinterher. »Langsamer!«, ruft der. »Muss pinkeln!«, grummelt der Sohn. Im nächsten Bild dann ein hübsches öffentliches Pissoir, drin Mühsam von hinten, die Hose hängt ihm um die Knöchel. In der Tür steht der Vater, so soigniert wie erschrocken. »Bist du das? Vater?« – »Oh, entschuldige! Ich warte.« – »Nur noch abtröpfeln.« – »Lass dir Zeit! Öh. Mein Sohn«, perlt eine vielsagend verkrampfte Sprechblasenkette durchs Bild.

Die fantasievolle, respektlose und manchmal pubertäre Bildsprache irritiert, aber nicht lange. Nach wenigen Seiten ist klar, wie stimmig Mühsams und Bachmanns Erzählweisen zusammengehen: Da ist die Selbstironie, der Spaß am knalligen Stil, die leicht surrealistischen Bild- und Gedankenentgleisungen und nicht zuletzt die unstete Figur Mühsam mit der extrem langen Nase, die Bachmann nach dem Vorbild zweier Selbstkarikaturen des Anarchisten entwickelt hat. Auch der Buchtitel »Anarchist in Anführungsstrichen« ist ein Zitat von Mühsam. Der befürchtete, so werde er, als zentrale Figur der Schwabinger Boheme, wohl in seinen Nachrufen bezeichnet werden. Der Band ist der erste Comic des 31-jährigen Zeichners und Filmemachers und wurde schon kurz nach Erscheinen für den wichtigsten deutschen Comicpreis, den »Max und Moritz« nominiert. Bachmann bleibt in der Wortwahl eng am Original, den ersten Passagen aus Heft eins der »Tagebücher« von 1910. Alle Bände, von 1910 bis 1924, veröffentlicht der Berliner Verbrecher Verlag derzeit in einer höchst lesenswerten Erstausgabe. Die Herausgeber Chris Hirte und Conrad Piens haben sie aufwendig editiert und mit einem detaillierten Anmerkungsapparat zu den wichtigsten Personen und Ereignissen versehen. Bachmann lässt die Zitate daraus in ordentlicher Schreibschrift am oberen Bildrand durch die Panels laufen. Darunter nimmt er sich aber all die Freiheiten, die Mühsam mit seinen Auslassungen und der Lust am Zweideutigen geradezu anbietet.

Spannend am Comic wie an den Tagebüchern ist, wie der Alltag und das, was aus heutiger Sicht längst Geschichte heißt, bei einem politisch wachen Beobachter wie Mühsam ineinanderfließen. Als er nach einer Kur im abgelegenen Schweizer Châteaux d’Œx seinen früheren Lebensgefährten Johannes Nohl besucht, freut er sich wahnsinnig darauf, wieder vernünftige Tageszeitungen kaufen zu können. Doch die Freude währt nur kurz. »Zeppelin Luftschiff in der Halle verbrannt«, liest er, die Begeisterung der Deutschen für die Luftschiffe sei jedoch ungebrochen. Grau in Grau unter einem Baum sitzend, die langen Beine nach Froschmanier rechts und links abgespreizt, analysiert Mühsam da so bitter wie prophetisch, Zeppeline seien nicht mehr und nicht weniger als »eine Waffe, die zur grauenvollsten Mordkatastrophe von oben« dienen werde. Er sollte recht behalten.

Konsequent warnt der spätere Mitbegründer der Münchner Räterepublik vor Aufrüstung und Imperialismus. Nur vier Jahre nach diesem Tagebucheintrag muss er den Beginn des Ersten Weltkriegs notieren: Ehemalige Seelenverwandte verfallen im Sommer 1914 dem blinden Kriegstaumel. Täglich verabschieden sich Freunde an die Front. Bald flattern die ersten Todesnachrichten ins Haus. In dieser aufgewühlten, aufwühlenden Zeit zeigt sich Mühsam eindrucksvoll durchlässig, macht keinen Hehl daraus, dass die Propaganda und die aufgeheizte Stimmung selbst bei einem Menschen von klarster politischer Überzeugung ihre Spuren hinterlassen. »Und ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie«, schreibt Mühsam, »ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ›Feinde‹, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, daß ›wir‹uns vor ihnen retten! Nur: wer sind sie – wer ist ›wir‹?« ||

JAN BACHMANN: MÜHSAM. ANARCHIST IN ANFÜHRUNGSSTRICHEN
Edition Moderne 2018 | 96 Seiten | 19 Euro

ERICH MÜHSAM: TAGEBÜCHER
Verbrecher Verlag, 2011 bis 2019 | 15 Bände | je 28 Euro
E-Book je 4,99 Euro | Vollständige kommentierte Onlineausgabe (kostenlos)

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