Nachbauen war gestern. Musik und Theater gehen neue Onlinewege. Zum Beispiel am Staatstheater Augsburg.

Staatstheater Augsburg

Es geht voran!

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Die Auflösung des Orts als Herausforderung: Das Stadttheater Augsburg präsentiert zum Beispiel Glucks »Orfeo« als virtuelles Format | © Jan-Pieter Fuhr

Virtual Reality (VR) ist aus vielen Bereichen von Kunst und Kultur schon nicht mehr wegzudenken. Keine Archäologiesendung im Fernsehen ohne einen Moderator, der mit VR-Brille im 3-D-Modell herumspaziert und sich vor Begeisterung nicht mehr einkriegt. Kaum eine Ausstellung, die nicht irgendwo einen VR-Platz integriert hat. Mit der Pandemie ist Digitalisierung von Oper, Theater und Konzert noch mehr in den Fokus gerückt, aber schon vorher hat das Staatstheater Augsburg einen Vorstoß gewagt, was VR in Schauspiel und Musiktheater bedeuten kann. Seither wird das entsprechende Angebot nicht nur vor allem im Bereich des Schauspiels ausgeweitet, es gibt auch mit Christoph Willibald Glucks »Orfeo ed Euridice« eine Inszenierung von Intendant André Bücker, seit Langem ein Fan von VR in jeder Hinsicht. Da darf der Besucher mit VR-Brille sowohl in die düstere Unterwelt abtauchen, hier in gewaltige Hochhausschluchten, ebenso wie er in die paradiesischen Sphären des »Elysiums« entrückt wird, das hier inspiriert ist von Plastik und Architektur Griechenlands, aber reichlich ironisch vor Kitsch nur so trieft.

Über 500 VR-Brillen hatte das Staatstheater Augsburg für die Premiere von Glucks erster Reformoper angeschafft. Sie war im Mai 2020 geplant, konnte pandemiebedingt aber erst im Herbst stattfinden. Aber was macht man in der Zwischenzeit mit dieser Hardware? Anderes ausprobieren. So wurden mehrere 360°-Videos produziert, um gerade in einer Zeit, in der ein halbes Jahr gar kein Theater möglich war, etwas Substantielles anbieten zu können. So etwa den einstündigen »Judas«-Monolog von Lot Vekemans in der kleinen Goldschmiede-Kapelle der St.-Anna-Kirche mit ihren alten Fresken, der als erste VR-Produktion im Mai 2020 per Kurier innerhalb Augsburgs zugestellt wurde. Roman Pertl war im grauen Kapuzenpulli mit schwarzer Hose und weißen Sneakers ein junger Mann von heute, dem mal aufbrausend, mal melancholisch, zornig oder sehr sanft ein anrührender Monolog gelang. Nicht zuletzt deshalb beeindruckend, weil der Schauspieler dem Zuseher in jeder Hinsicht physisch wie psychisch äußerst nahe kam!

Raumerleben mit Brille

Bei der Premiere der Gluck-Oper erwies sich, wie gut ein solches 360°-Verfahren in 3-D das Liveerlebnis ergänzen kann. Vor allem der »Flug« durch die Unterwelt durch düstere Häuserschluchten war faszinierend, zumal man sich ja immer nach allen Seiten drehen konnte. Wer regelmäßig qualitative Videospiele konsumiert, die eine ausgefeilte Technik und Ästhetik besitzen, mochte manch’ naive Visualisierung – vor allem im Elysium – belächeln, wer bislang mehr oder minder analog unterwegs war, hatte großen Spaß. Dann kam der zweite große Lockdown, doch im Theater Augsburg wurden weiter VR-Produktionen erstellt. Heute ist »Digitaltheater« eine eigene Sparte neben Musiktheater, Schauspiel, Ballett und Konzert. Vor allem mehrere VR-Schauspielmonologe entstanden und ein Stück, in dem der Zuschauer selber in die Handlung eingreifen kann, aber auch »eine interaktive Konzert-Erfahrung in 360°« mit Modest Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung« in der Orchesterfassung von Maurice Ravel. Mitten drin unter den Musikern der Augsburger Philharmoniker sitzend, kann man das Geschehen aus vier verschiedenen Kameraperspektiven mit Rundumblick in alle Richtungen erleben. Auch da gibt es noch Defizite, etwa dass aus einer bestimmten Perspektive der Dirigent nur ein grauer Schemen ist und mit jedem »Stellungswechsel« die Musik für mehrere Sekunden aussetzt. Man sollte also tunlichst die Blickrichtung exakt nur zwischen den »Bildern« ändern.

Immer spannender gestaltet sich dagegen Maurice Ravels »Boléro«. Der beginnt recht konventionell mit TänzerInnen in sechs Waben wie in einem Setzkasten. Doch dann beginnen sich diese Kuben zu verkanten, zu bewegen, dabei überlagern sich die Tänzer und Tänzerinnen manchmal, werden durchsichtig, überwinden die Schwerkraft und erscheinen auch schon mal als monochrome Avatare. Dann wieder umkreisen sie den Zuschauer, der sich auf seinem Drehstuhl um die eigene Achse drehen muss. Das ist überraschend, spannend und macht Lust auf mehr! Eine originelle VR-Produktion ist auch »kinesphere«, in der ein Industrieroboter-Greifarm mit Tänzerinnen und Tänzern interagiert bis hin zum Höhepunkt eines zärtlichen Pas de deux. Für die mit der jeweils gewünschten Produktion versehenen Brillen gibt es einen augsburgweiten Versand per Fahrradkurier, einen deutschlandweiten Leihbrillenversand oder das Streaming auf die eigene VR-Brille.

Neue Freiheiten inszenieren

Im November gab zur Eröffnung einer »Hybriden Tagung zu neuen digitalen Bühnen« Daniel Stock zu bedenken, dass man bei dem von ihm und Christian Schlaeffer entwickelten »Elektrotheater« absolutes Neuland betrete, aber sich glücklich schätzen dürfe, dass man keinen Raum, keine Bühne, kein Haus mehr habe, sondern die absolute Freiheit. Denn: »Wer ein Theater in VR nachbaut, der hat’s nicht verstanden!« Tina Lorenz, am Staatstheater Augsburg mit allem Digitalen befasst und treibende Kraft hinter allen Projekten, erklärt: »Publikums-Avatare treffen auf Schauspieler-Avatare, aber eben nicht mehr in einem physisch vorhandenen, sondern in einem geteilten virtuellen Raum.«

Am 16. Februar findet im Alten Rock Café, der neuen kleinen Bühne des Staatstheaters Augsburg eine erste Präsentation statt, die vermitteln will, wie es aussieht, wenn man »Gäste« hat, die sich von zu Hause, wo immer sie sind, zuschalten und mitwirken können, einen Techniker, der quasi als Bühnenarbeiter fungiert, und einen oder mehrere SchauspielerInnen, die interagieren. Im Juni gibt es mit »Ugly Lies The Bone« eine deutsche Erstaufführung, in der einer Soldatin experimentelle Schmerztherapie in virtueller Realität helfen soll, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Dabei wird die künstliche Intelligenz zu ihrem Therapeuten und zu ihrer einzigen Hoffnung auf Heilung. Man darf darauf ebenso gespannt sein wie auf ein in Planung befindliches Musiktheaterprojekt, bei dem ebenfalls wieder virtuelle Realität eine zentrale Rolle spielen soll. ||

STAATSTHEATER AUGSBURG: DIGITALES THEATER
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