Das Staatstheater Augsburg ist Vorreiter bei der Entwicklung vielfältiger, digitaler Theaterformate. Die Digitalbeauftragte Tina Lorenz erzählt von überraschenden Begegnungen.

Staatstheater Augsburg & VR

Auch Omi setzt die VR-Brille auf

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Tina Lorenz hat die ganze Welt auf dem Kopf sitzen | © Jan-Pieter Fuhr

Tina Lorenz sitzt gerade bei Orchesterproben für eine 360-­Grad­-Aufnahme und ist ganz beseelt, dass wieder geprobt werden darf. Die studierte Theaterwissenschaftlerin wurde im Chaos Computer Club sozialisiert, ist eine Pionierin des digitalen Theaters und seit dieser Spielzeit Digitalbeauftragte am Staatstheater Augsburg und für die Entwicklung neuer Formate zuständig. Das Haus experimentiert mit digitalen Plattformen, um den Theaterraum virtuell zu erweitern. Das Programm »vr­theater@home« mit VR­Brillen zum Ausleihen und serielle Inszenierungen auf der Gaming­Plattform twitch sind erst der Anfang.

Frau Lorenz, wer leiht sich denn bei Ihnen VR-Brillen aus, um Theater zu erleben?
Unserer bisherigen Erfahrung nach ist das tatsächlich zu einem großen Teil das klassische Theaterpublikum. Da ist mitunter auch die 83­jährige Omi dabei, die das von den Enkeln erklärt bekommt, und die Rückmeldung ist wirklich gut. Die Leute haben Lust auf Theater und probieren unsere digitalen Angebote gerne aus. VR eignet sich für Theater besonders gut, weil im Gegensatz zu einem abgefilmten Stream keine Blicklenkung mehr stattfindet. Man setzt die Brille auf und hat ein Gefühl von Präsenz. Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, dass man auf einmal eine ganze Welt auf dem Kopf sitzen hat, dann ist das auch für das Publikum eine total theaterähnliche Erfahrung. Und unsere Nutzer*innen finden sogar Wege, ein Gemeinschaftserlebnis daraus zu machen. Wir haben eine Community, die sagt: Wir leihen uns 20 Brillen, schicken die an unsere Freunde, verabreden uns in einem Zoom­-Meeting und gucken das zusammen.« Zack – Theater! Damit hätten wir im Traum nicht gerechnet.

Sie sagen »Nutzer*innen» – weshalb?
Wir haben im Theater ja seit ungefähr 120 Jahren eine sehr klassische Rezeptionshaltung. Das Licht geht aus, es wird dunkel, vorher haben wir die Mäntel abgegeben. Das ist eine einge­ übte Sache. Im Internet und überhaupt in digitalen Formaten ist das anders, weil man dort anders kommuniziert und sich anders verhält. Ich finde es immer wieder faszinierend, wenn Theater im digitalen Raum eine Theaterrezeptionshaltung erwarten, nur weil sie der Sender sind. Sie verstehen aber nicht, dass der Kanal, auf dem gespielt wird, maßgeblich an der Rezeptionshaltung beteiligt ist und dass man da auch einfach anders spielen und die Leute anders mitnehmen muss.

Wie müssen Theater ihr Verhalten anpassen?
Immer wenn wir live spielen, also mit Chatfunktionen wie momentan auf twitch, machen wir wirklich ganz extensives Community Management. Es ist immer jemand von uns aktiv im Chat dabei, um zu diskutieren, die gesehenen Sachen einzuordnen und zu erklären. Wir gestalten den digitalen Raum mit, und das finden die Leute wahnsinnig gut, weil sie das Gefühl haben, dass sie gerade Teil von etwas sind. Und das ist dann Theater – diesen Livemoment gemeinsam zu erleben.

Gibt es da auch unerwartete Begegnungen?
Ich bin hier gerade mit dem Orchester beschäftigt, und die Musiker wollten gerne »so Computerfreaks« anschreiben, um mit denen die fertige VR-­Experience anzugucken. Es stellte sich dann heraus: Das ist ein Counterstrike­-Verein, der natürlich mit VR nichts zu tun hat, sondern aus klassischen Gamern besteht. Aber das Witzige: Die haben zurückgeschrieben, sind völlig begeistert und kommen demnächst mal vorbei. Da geht es nicht mehr um Zielgruppen, sondern um Begegnungen von Leuten, die bisher vielleicht noch nicht so viele Berührungspunkte hatten. Für solche Begegnungsformate lebe ich total.

Das klingt so einfach. Wo liegen bei solchen Projekten die Schwierigkeiten?
Die Theater­-Nerds und die Technik­-Nerds sind sich wirklich total ähnlich und brennen alle für ihre Sache. Die sprechen nur null dieselbe Sprache. Wenn die sich begegnen, sind beide Seiten überzeugt davon, dass die anderen völlig Banane sind. Das heißt, wir müssen die Übersetzungsleistung erbringen. Deshalb braucht es Schnittstellen wie meine.

Aber die Erkenntnis ist ja viel wert: Es ist »nur« ein Übersetzungsproblem!
Ja, wir müssen uns da natürlich noch volle Kanne finden. Momentan bin ich eine One­-Man­-Show und mache alles. Daswäre auf Dauer natürlich nicht nachhaltig, deshalb versuchen wir gerade, das im Betrieb zu verankern, und gründen auch ein bundesweites Netzwerk für digital interessierte Theater. Wir wollen dieses Moment der Interessiertheit auch in postpandemischen Zeiten aufrechterhalten.

Kann der digitale Raum während der Beschränkungen eine Alternative zum physischen Theater sein?
Theater sind ja auch öffentliche Orte der Versammlung, die können aber gerade nicht stattfinden. Die digitalen Orte der Versammlung sind alle privatisiert und gehören großen Firmen. Es gibt keine Entsprechung eines öffentlichen Versammlungsortes im Digitalen. Das haben wir einfach vor 20, 30 Jahren versäumt zu etablieren. Wie verhält man sich zu einer Öffentlichkeit, die kein öffentlicher Raum mehr ist, sondern nur noch den Anschein eines öffentlichen Raums hat, aber ökonomischen und privatwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt? Theater haben sich bisher immer darauf zurückgezogen, zu sagen: »Na ja, aber wir haben ja noch den physischen Raum. Das ist unser Ort der Versammlung.« Man muss darüber reden, wie wir diese Kanäle nutzen und wie wir uns dazu verhalten, damit wir gemeinsam Orte der Gegenöffentlichkeit im Digitalen finden können.

Kommt man um die großen Plattformen herum?
Ich kann mir schon vorstellen, dass man die utilisiert. Da hängen die Leute halt rum. Was man immer machen kann, ist die Menschen einzuladen, eine Art von temporärer Gemeinschaft zu bilden. Nichts anderes machen wir ja im Theater: Wir laden die Leute ein, einen Abend mit uns zu verbringen. Wenn wir diesen Moment ins Digitale übersetzen können, dann sind wir wirklich angekommen. ||

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