Auch im Sommer 2021 haben unsere AutorInnen wieder spannende Buchtipps für Sie parat. Hier ein kleiner Einblick, die komplette Auswahl finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Buchtipps für den Sommer 2021
ANIKA LANDSTEINER: SO WIE DU MICH KENNST
Fischer Krüger, 2021 | 352 Seiten 16,99 Euro
SCHWESTERN
Marie ist tot. Ein Auto hat sie erfasst, als sie in New York die Straße überqueren wollte. Ob sie die rote Ampel bewusst ignorierte, ist eine von vielen Fragen, mit der ihre Schwester Karla zurückbleibt. Aufgewachsen in einem bayerischen Dorf, haben die beiden jungen Frauen zwei diametrale Lebenswege gewählt: Karla schreibt für die Lokalzeitung in ihrer Heimat; Marie ist einer (gescheiterten) Liebe wegen in die USA gegangen und hat dort als Fotografin Karriere gemacht. Und obwohl die Schwestern auch charakterlich stark differieren, sind sie stets eng vertraut geblieben, haben täglich kommuniziert, sogar Passwörter und Zahlencodes ausgetauscht. Nun sitzt Karla in Maries Wohnung – und erkennt bei dem Versuch, Maries Angelegenheiten zu ordnen, dass ihre Beziehung bei Weitem nicht so »barrierefrei« war, wie sie dachte. Die Münchner Autorin Anika Landsteiner erzählt diese Schwesterngeschichte aus beider Perspektive: Während Karla auf Maries Spuren New York erkundet und dabei so manches Geheimnis aufspürt, steuert Marie im zweiten, zeitversetzten Erzählstrang unaufhaltsam auf die Katastrophe zu. Ein kluger, sanfter und zugleich hochspannender Roman über Sprachlosigkeit in einer scheinbar intakten Familie. ||
TINA RAUSCH
MATHIAS ENARD: DAS JAHRESBANKETT DER TOTENGRÄBER
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller | Hanser Berlin, 2021, 480 Seiten 26 Euro
FLUCHT
Mathias Enards Roman »Das Jahresbankett der Totengräber« ist ein so bizarrer wie barocker Ausflug in ein Reich von Landlust und Landleid im französischen Westen zwischen La Rochelle und Niort. Hier, in der Region Deux-Sèvres, hat der Autor seine Jugend verbracht und hier lässt er den jungen Doktoranden der Ethnologie David Mazon landen und letztlich stranden. Hält er anfangs noch in seinem Tagebuch fest: »Ich glaube, es ist mir gelungen, meine Haupthypothese zu formulieren, nach der das Land heute der Ort der Diversität ist, der Ort, wo tatsächlich die unterschiedlichsten Lebensweisen aufeinandertreffen«, gibt er irgendwann seine universitären Studien auf. Der Dampf ist raus aus seiner »Scheiß Doktorarbeit«, er wird sie nicht beenden und sich dem Landleben und der Liebe hingeben. Warum auch nach Paris zurückkehren mit seinem »Geschlechtsverkehr im Haussmann-Stil«?
Allerdings erzählt der Roman nicht nur die einfache Geschichte einer Flucht aufs Land. Die ist nur Basis für ein aberwitziges Feuerwerk, das entzündet wird, in dem Leben und Tod der Dorfbewohner in hellstem Licht aufflammen – nicht nur beim rituellen Jahresbankett der Totengräber. Zeit und Raum spielen nicht die klassischen Rollen, Mathias Enard dreht im Sinne des tibetischen Buddhismus am Lebensrad, spielt bei seinen Figuren mit Seelenwanderung und Wiedergeburt. Da gibt es dann schon mal ein Wildschwein mit Priesterseele. Das Leben ist Wahnsinn und der Tod auch, das weiß man ja, aber selten wird es so deutlich wie bei der Lektüre dieses mit philosophischen und literarischen Anspielungen, etwa auf Rabelais, nicht geizenden Romans. Eine ungewöhnliche, teils faszinierende, mal auch etwas quälende Lektüre. ||
RÜDIGER VON NASO
BERNHARD HECKLER: DAS LIEBESLEBEN DER PINGUINE
Tropen Verlag, 2021 | 208 Seiten 20 Euro
VERSTRICKT
Was für ein Buch! Bernhard Heckler nimmt seine Rolle als Autor und Schöpfer von Schicksalen sehr wörtlich. Wie ein wohlwollender Gott nimmt er seine Figuren auf so unprätentiös originelle wie virtuose Weise an die Hand und führt sie von Kalabrien nach München, vom Glockenbach nach Giesing, durch Abgründe und in leuchtende Höhen. Niko, Sascha, Nura und Fabio sind Personen, die uns wohl zigfach tagtäglich über den Weg laufen. Auf den ersten Blick unauffällig, dann aber, wenn man ihre Geschichten kennenlernt, jede für sich schillernd und faszinierend. Hecklers literarische Partitur überrascht durch die gelenkige Verzahnung der einzelnen Lebensstränge, die sich begegnen, trennen und wiederfinden. Die Zeichnung seiner Protagonisten ist liebevoll genau, Hecklers Sprachkosmos geschmeidig ohne eitle Dekorationen, manchmal auch herzhaft und sehr komisch. Und die Idee, das Familienleben von Pinguinen als strukturierendes Element einzubauen, ist höchst charmant – vor allem, wenn der Pinguin dann leibhaftig das Szenario betritt. Überraschende Lektüre mit langem Nachhall. ||
CHRISTIANE PFAU
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