Im Gärtnerplatztheater erleben Münchens wilde Siebziger ihr Revival auf der Bühne, mit dem frisch-frechen Musical »Rockin’ Rosie«.
Rockin‘ Rosie
München rockt!
München, eigentlich die Musikstadt der Klassik, war auch im Pop ganz anders, damals in den 1970er Jahren. Da gab es Clubs wie das »Rigan«, »Tiffany«, »Big Apple« oder »Blow Up« bis hin zu »Kay’s Bistro«, deretwegen nicht nur Freddy Mercury oder Leonard Bernstein sich an der Isar zu Hause fühlten. Da gab es außerdem weltweit bekannte Aufnahmeleiter wie Sylvester Levay oder Michael Kunze, die komponierten und produzierten, daneben »Sound-Mixer« wie Harry Thumann, Giorgio Moroder, die in die gleichfalls weltweit geschätzten »Musicland«- und »Country Lane«-Aufnahmestudios kamen. Neben den Rolling Stones, Led Zeppelin oder Deep Purple gaben sich viele andere Stars dort die Klinke in die Hand. Eine junge Backgroundsängerin war damals mit dabei und zog auch solistisch mit ihren Bands durch die Clubs. Mit ihren Kenntnissen der deutschen Pop-&-Rock-Szene saß sie dann lange bei »Pop nach 8« neben Thomas Gottschalk als Moderatorin im Bayerischen Rundfunk, bis die deutschsprachigen Musicalbühnen ihre Präsenz und ihr Multitalent entdeckten und eine breit gestreute Karriere folgte.
Seit 2016 ist sie als soeben ernannte »Kammersängerin« Ensemblemitglied des Gärtnerplatztheaters: Dagmar Hellberg. Die metiererfahrenen Bühnenprofis Wolfgang Böhmer als Komponist und Peter Lund als Texter setzten sich mit den zahlreichen Zeitzeugen der wilden Jahre zusammen und ließen sie über Sex-’n’-Drugs-’n’-Rock-’n’-Roll-Erfahrungen erzählen. Und jetzt steht »die Hellberg« als »Rockin’ Rosie« im Zentrum eines hundertminütigen Musicals: Diese Bühnen-Rosie feiert in einer bürgerlich hübschen Zweieinhalb-ZimmerWohnung am Rande Schwabings mit Blick vom kleinen Balkon Richtung Münchner Frauenkirche (detailfreudige Ausstattung: Rainer Sinell) ihren 70. Geburtstag. Zu den mit ihr »gereiften« Bandmitgliedern kommt nach über 20 Jahren familiärem Stillschweigen auch die Familie zum Fest.
Daraus entwickelt Regisseurin Nicole Weber eine mal nostalgische, mal witzige Feier. Der Hardrocker und wohl einstige Frontmann »Sir Toby« muss als unverbesserlicher Aufreißertyp Ischias-Altersgrenzen erkennen, was Alexander Franzen überzeugend verkörpert. Die »Uschi« von Frances Lucey fällt erneut auf sein Anbaggern herein und ist so herrlich sexy, dass sie am Ende den jungen abgehalfterten Verlobten von Rosie-Enkelin Hanna verführen wird. Der »Aki« von Frank Berg führt leise mitleiderregend vor, wie Demenz beginnt. »Manni«, verkörpert von Erwin Windegger als der durchgehend ruhig-feine Ex-Manager der Band, kümmert sich um ihn und gleicht auch sonst mehrfach die Differenzen aus.
Denn es bricht trotz oder wegen etlicher Joints und Haschkeksen das allzu bürgerliche Familienchaos aus: Rosie hat 46 Jahre lang ihrem Architekten-Sohn mit der Kleinstadtkarriere verschwiegen, wer sein Vater ist, den Armin Kahl glaubhaft steif-kantig verkörpert. Enkelin Hanna will sich in eine Ehe mit einem überkorrekten Jungarchitekten flüchten, bricht aber Hasch-gelockert aus, was Florine Schnitzel tänzerisch-turnend und gesanglich hochamüsant gelingt. Der Enkel Vinzenz von Gunnar Frietsch gibt den »Lieber Gras rauchen als Heuschnupfen«-Aussteiger, der in Rosies Garage durchhängt. Und auf diesem Stadtgrundstück, einst Proberaum der Band, inzwischen Millionen wert, will der kirchenchorsteife Jungarchitekt von Peter Neustifter ein »Mehrgenerationenhaus« errichten, scheitert aber mit Bauplan und Verlobung.
Für dieses sehr realistische »gutbürgerliche« Familien-Freundes-Chaos haben Böhmer-Lund eingängige, oft melodiös schwingende, nur kurz in »Freiheits«-Rock ausbrechende Songs geschrieben, die viele amüsante Textbissigkeiten enthalten. Alles würde in ein »Ernstical« führen, wäre da nicht die souveräne Lebensfreude der Rosie, für die Dagmar Hellberg die Bühnenstatur und selbstverständliche Präsenz mitbringt, sodass sie wie »die Sonne und ihre Trabanten« wirkt. Mit strahlender Stimme serviert sie »Heute ist mein Tag« und ebenso überzeugend führt sie das Band-Ensemble »Freiheit« an. Da kann die von Andreas Partilla am Keyboard geleitete Band etwas loslegen, doch ansonsten gelingt das Kunststück, mal nicht rockig zu dröhnen, sondern differenziert zu begleiten. Zum Höhepunkt des Abends wurde schließlich Mannis spätes Liebesgeständnis »Ich seh dich jeden Tag«: Erwin Windegger sang das am Ende mit glutvoller Emphase und großem Ton, doch wie »die Hellberg« das Phrase für Phrase auf- und annahm, war nicht nur großes Theaterspiel, sondern auch anrührende, tief empfundene Menschendarstellung. Stehende Ovationen – das unterhaltende Theater hat ein ernst zu nehmendes Musical mehr. ||
ROCKIN’ ROSIE
Gärtnerplatztheater | 31. Jan., 2., 7., 8. Feb. | 19.30 Uhr
Tickets: 089 21851960
Weitere Musikkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
der/gelbe/klang: Wintersaison im Schwere Reiter
Julia Fischer und Johannes X. Schachtner im Interview
Kino im Dezember 2021: Annette, Drive My Car, The Hand of God, Plan A
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton