Mohamed Mbougar Sarr macht sich in seinem grandiosen Roman über den kolonialistisch geprägten Blick auf afrikanische Autoren im westlichen Literaturbetrieb lustig – aber das ist längst nicht alles.
Mohamed Mbougar Sarr
»Die geheimste Erinnerung der Menschen«
Im Netz der Erwartungen
Das schlimmste Übel in der Literatur sei die Frage danach, wovon das Buch handle. Denn in einem guten Buch gehe es immer um alles und nichts, heißt es in diesem Roman. Und im Falle von »Die geheimste Erinnerung der Menschen« haben wir es zweifellos mit einem guten Buch zu tun. Und mit einem, in dem die Literatur selbst die zentrale Rolle spielt – neben dem Eurozentrismus, dem Verlust kultureller Wurzeln, der Suche nach Identität und Liebe. Doch vor allem geht es um den Stellenwert der Literatur im Leben und um das Schreiben, wo doch so viele andere Dinge, politische und soziale, so viel wichtiger scheinen. »Wir dachten keineswegs, dass Bücher die Welt retten könnten«, sagt der junge Schriftsteller und Ich-Erzähler des Romans, »hingegen hielten wir sie für das einzige Mittel, um nicht vor ihr davonzulaufen.«
Ist der Plot da noch wichtig? Der Autor, Mohamed Mbougar Sarr, hat ihn jedenfalls klug genug gewählt, dass er diesem »Alles und Nichts« nicht nur Raum bietet, sondern auch die Spannung bis zur letzten Seite aufrechterhält, und der Lesesog, der zwar immer wieder raffiniert unterbrochen wird, nicht zusammenbricht. So, dass die komplexe Struktur und die vielschichtigen Themen das Lesevergnügen nur noch steigern.
Es ist eine Art Detektivgeschichte, die er sich dafür ausgedacht hat. Ein junger, in Paris lebender senegalesischer Schriftsteller, Diégane Latyr Faye, sucht nach dem verschwundenen Autor T.C. Elimane, der achtzig Jahre zuvor mit dem Erscheinen seines einzigen Romans einen Skandal auslöste und verschwand. Übrigens ist der Roman einem realen Vorbild Elimanes gewidmet, Yambo Ouologuem. Wie Diégane stammte auch T.C. Elimane aus dem Senegal und in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts lebte auch er in Paris. Als Ziel gesetzt hatte er sich nicht weniger, als absolute Literatur zu schaffen. Als sein Roman 1938 erschien, faszinierte er die Literaturwelt. Von einem »schwarzen Rimbaud« sprach die Kritik, zugleich zweifelte man, dass ein aus dem Senegal stammender Autor über eine so stupende Belesenheit und Bildung verfügen könne, wie sie sich in diesem Buch zeige. Zu viel Bildung gestand man einem afrikanischstämmigen Autor nicht zu. Zugleich kreidete man ihm das Fehlen afrikanischer Bezüge an – die literarische Qualität und die Themen des Buches waren der Kritik kaum eine Randbemerkung wert. Elimane selbst scheute die Öffentlichkeit, nicht einmal ein Foto gab es von ihm.
Als man ihn des Plagiats bezichtigte, wurde das Buch eingestampft. Hier reißen die Spuren ab. Als dem jungen Diégane 2018 ein seltenes Exemplar des Buches in die Hände fällt, macht er sich, geradezu besessen, auf die Suche nach dem verschollenen Schriftsteller. Und damit beginnt diese verschlungene Geschichte, die der Protagonist in Ich-Form erzählt. Dass er sich zu diesem Ich erst auf den Weg macht, zeigt sich schon daran, wie großzügig er das Erzählen über weite Strecken anderen überlässt: einer in Amsterdam lebenden Autorin, die mit Elimane verwandt ist, einer Literaturkritikerin, die sein Buch rezensiert hatte, dem Verlegerehepaar. Geschickt wird der Staffelstab des Erzählens von Lebenden an längst Verstorbene, von einem an den nächsten Ich-Erzähler weitergegeben.
Faszinierend ist die Lektüre schon allein des virtuosen Umgangs mit der Sprache wegen – hervorragend ins Deutsche übertragen von Holger Fock und Sabine Müller –, die die Vielstimmigkeit abbildet und sämtliche Sprachregister zieht, je nachdem, wer spricht und wovon erzählt wird. Sarr flicht auf herrlich ironische Weise all das in den Roman ein, worüber hier auch verhandelt wird, all das, was afrikanischstämmigen Autorinnen und Autoren mal als inadäquat abgesprochen wird – zu viel Bildungsbürgertum und Weltläufigkeit –, mal als unabdingbar gefordert wird: Ein wenig Sex und afrikanische Mystik ist erlaubt, aber bloß kein Exotismus. Und so spielt Sarr auf höchst amüsante Weise auf der Klaviatur der Themen und Stilebenen und verwebt die Niederungen des Lebens, aktuelle intellektuelle Diskurse, Holocaust und Kolonialismus zu einem einzigen ungewöhnlichen Geflecht. Er lässt seine Leser dabei munter stolpern und in Fallen tappen. Voller Selbstironie beschreibt er auch die Zerrissenheit afrikanischstämmiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im europäischen Kulturbetrieb unbedingt Fuß fassen wollen, zugleich aber dessen unangemessenen, selbstgerechten Dominanzanspruch durchschauen und ihm entkommen wollen.
Sinnbildlich und, wie sich später erwiesen hat, prophetisch steht dafür der Prix Goncourt, den Sarr im vergangenen Jahr tatsächlich, noch dazu als jüngster Autor in der Geschichte des Preises, erhalten hat. »Die geheimste Erinnerung der Menschen« ist ein herausragend kluger, witziger und hintergründiger Roman; seinen Autor, Mohamed Mbougar Sarr, kann man am 8. Februar im Literaturhaus persönlich kennenlernen. ||
MOHAMED MBOUGAR SARR: DIE GEHEIMSTE ERINNERUNG DER MENSCHEN
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller | Hanser, 2022 | 448 Seiten
27 Euro
LESUNG MIT MOHAMED MBOUGARSARR: DIE GEHEIMSTE ERINNERUNG DER MENSCHEN
Literaturhaus, Saal | 8. Februar | Moderation: Annabelle Hirsch | 19 Uhr
Weitere Literaturkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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