Leseproben

Mit auf die Reise! Beste Bücher

Die Sommerlektüre-Tipps unserer Autoren.

 

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Clarice Lispector – Der große Augenblick

Sieben Figuren hat seine Geschichte, erklärt der Erzähler, »und ich bin eine der wichtigsten davon.« Ohne ihn würden wir Macabéa nie begegnen, die sich in Rio als Schreibkraft durchschlägt. Sie ist irgendjemand und niemand. »Die Kleine«, »das Ding«, weiß in ihrer Einfalt nicht einmal, dass sie unglücklich ist. Von einer Frau, die gelernt hat, sich das Wünschen zu verbieten, von der Banalität des Unglücks handelt der letzte Roman der literarischen Ikone Brasiliens Clarice Lispector. Zugleich kreist »Der große Augenblick« um die Macht und Ohnmacht der Sprache, den betörenden Glanz der Literatur, die dem Elend Schönheit und Bedeutung verleiht. Dagegen lehnt sich der Erzähler auf, der Macabéas schäbiges Leben mitunter fast verächtlich schildert. Wie Flauberts Félicité hat auch sie ihre Liebesgeschichte, eine dumme Affäre von grotesker Hässlichkeit. Aber natürlich ist der sarkastische Ton Täuschung, zielt Lispector mitten ins Herz mit ihrem trostfreien, böse komischen und grausam schönen
Roman.
PETRA HALLMAYER

 

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Qui Xiaolong – Schakale in Shanghai

Gespräche wie Schachspiele: Wenn Chen Cao mit Polizei- und Parteikollegen redet, muss er verdeckte Absichten erahnen, taktieren und tricksen. Auf Zwischentöne und Andeutungen achten. Chen wurde von seinen Ämtern als Shanghaier Oberinspektor und stellvertretender Parteisekretär entbunden und auf einen Direktorenposten des Komitees zur Rechtsreform weggelobt. Warum, weiß er nicht. Also
recherchiert der integre Ermittler in eigener Sache. Mit der Figur des Intellektuellen Chen bereichert Qiu Xiaolong seit 15 Jahren das Krimigenre. Der achte Roman dieser Reihe entspricht einer feinen Kultur- und Gesellschaftsstudie über die Widersprüche im modernen China. Mit Zitaten aus Suzhou-Opern, Versen von Dichtern der Ming- und Qing-Dynastie und Glaubenssätzen des Neokonfuzianismus. Chen Cao kommt schließlich korrupten Parteikadern auf die Spur. Und realisiert, dass er zu anständig und gebildet ist, um weiter gefahrlos Karriere machen zu können.
GÜNTER KEIL

 

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Frederike Wißmann – Deutsche Musik

Nein, auch nach der Lektüre der 500 Seiten weiß man nicht, was deutsche Musik ist. Bereits im Vorwort gibt Friederike Wißmann zu, dass ihr Buch »Deutsche Musik« (Berlin Verlag) keinesfalls vollständig ist. Stattdessen wirft die Musikwissenschaftlerin einzelne Schlaglichter auf die Musikkultur dieses Landes, wobei sie nicht nur erstaunliche Zusammenhänge schafft, sondern auch zementierte Lehren genüsslich dekonstruiert, etwa jene vom Volkslied, das »am Schreibtisch namhafter Komponisten« entstand und mitnichten über Generationen hinweg tradiert wurde. Das größte Pfund des Buches ist aber die universelle Betrachtungsweise, die kaum ein musikalisches Phänomen oder Genre außer Acht lässt: Die Bayreuther Festspiele fanden ebenso Eingang ins Buch wie das Wacken Open Air und die Donaueschinger Musiktage, schließlich sind dies allesamt »weltberühmte Festivals in der deutschen Provinz«. Die Frage nach der deutschen Musik – Wißmann beantwortet sie nicht mit einem Fazit am Schluss, sondern gleich auf der ersten Seite, wo sie ein kundiges, kritisches, mit Ironie gespicktes
Panorama der deutschen Musiklandschaft entwirft.
MAXIMILIAN THEISS

 

»Überflüssige Menschen. Überflüssige Worte«

Im Residenztheater kann Martin Kusej Tschechows Frühwerk »Iwanow« nur bis zur Pause beleben.

Liebe ist kein Heilmittel: Anna (Sophie von Kessel) kann ihren Mann Iwanow (Thomas Loibl) nicht aus der Depression reißen © Matthias Horn

Liebe ist kein Heilmittel: Anna (Sophie von Kessel) kann ihren Mann Iwanow (Thomas Loibl) nicht aus der Depression reißen © Matthias Horn

 

SABINE LEUCHT

Gut zweihundert Minuten lang muss man sich hier mit Iwanow dessen Lebensüberdruss teilen. Gleich zu Beginn taumelt er in Gestalt von Thomas Loibl auf die Bühne, die Waffe für seine Erlösung schon in der Hand – und seine Stimme kommt mit Kierkegaard-Sätzen aus dem Off: »Wer hat mich in das Ganze hineingenarrt und lässt mich nun da stehen?« Es ist die Frage nach der Verantwortung für die eigene Existenz, die Martin Kušej seiner »Iwanow«-Inszenierung voranstellt, um sie sogleich von deren Protagonisten wegzuschieben. Dieses »Wer?« ist nicht das Ich, das demnach schuldlos in der Falle sitzt.

So ist das bei Tschechows Müden und Bewegungsunfähigen, die nun aus dessen Frühwerk über das Residenztheater gekommen sind. Und zwar so, dass man zumindest bis zur Pause bei der Stange bleibt. Weil die Schauspieler gut sind, die auf Annette Murschetzs Bühne angemessen starr in ihren Rollenkorsetts stecken. Zwei fast identische Salons wechseln einander ab. Der der Iwanows ist von brauner Patina angefressen, die Eingangstür hängt lose in ihren Angeln, und auf den im Raum herumstehenden Stühlen liegt der Staub so dick wie Sand am Meer. Sein Double dagegen schaut grellweiß auf die Lebedjews und ihre Dauergäste: Spieler und Trinker, die die Karten in ihren Händen hypnotisieren, als könnten sie ihnen dadurch ein Glücksversprechen entlocken. Dabei reden sie sich mit Beschwerden über die knausrige Gastgeberin, morbiden Bonmots oder Bösartigkeiten über Iwanows jüdische Frau die Katatonie etwas bunter.

Lange und langsam breitet Kušej den Stumpfsinn vor uns aus, an dem Iwanow leidet. Juliane Köhler als Sinaida Sawischna hat ihr Teeglas so fest im Griff wie ihre Darlehenskasse, ihr Mann ist bei Oliver Nägele ein netter Pudding von einem Mitläufer, ihre Tochter Sascha bei Genija Rykova so aufrecht und gesund, dass sie den armen Iwanow mit ihrer Liebe retten zu können glaubt. Dessen  schwindsüchtige Frau Anja schleppt sich bei Sophie von Kessel in wechselnden Nachtgewändern hustend von Stuhl zu Stuhl und von stiller Güte zur späten Wut auf den Herzlosen, für den sie Familie und Erbe geopfert hat.

Der Abend erzählt anfangs noch vom energetischen Gefälle zwischen den Menschen, an dessen Peak Point der vor Geschäftstüchtigkeit und zwielichtigem Aktionismus überbordende Borkin Marcel Heupermans steht – dicht gefolgt vom ungleich moralischeren Doktor Lwow (Till Firit), der als Annas Hausarzt seine Leidenschaft für die Patientin in Empörung gegen ihren gefühllosen Mann verwandelt. Der bewegt sich bei Thomas Loibl ebenso unentschieden zwischen klinischer Depression und
Symptom einer verfaulenden Gesellschaft wie der Regisseur zwischen Seele und Welt, Tragödie und Komödie. Und obwohl die ganze innere Ödnis der hier porträtierten »überflüssigen Menschen« schon vom ersten Bild an offen vor uns liegt, schickt ihr Kušej nach der Pause noch all die »überflüssigen Worte« nach, mit denen ein im Geschäft der Verdichtung noch kaum geübter Autor überflüssigerweise ihr Handeln begründet.

Allerdings werden diese Worte hier so leise gesprochen, als hätte auch Kušej sie lieber gestrichen als zunehmend boulevardesk um sie herumzutänzeln. Klüger wär’s gewesen! Denn je länger der Abend dauert, umso fader wird er. Kein an den Realitäten zerschollenes Ideal geht einen an – und noch die letzte interpersonale Restspannung verpufft, bis Iwanow endlich »die schiefe Bahn« in den Selbstmord hinabrutscht.

Residenztheater | 16., 20. Juli | 19 Uhr
Tickets: 089 21851940 | ww.residenztheater.de