Robert Gerloff verfremdet E.T.A. Hoffmanns »Sandmann« mit faszinierenden Theatereffekten und gedanklichen Kurzschlüssen.

Papa (Manfred Zapatka), Nathanael (Oliver Möller) und Mama (Arthur Klemt im trauten Heim | © Matthias Horn

Ein riesiger Ballon schwebt über der Bühne, auf dem ein gruselig großes Auge und düstere Filmszenen erscheinen. Eine Wand mit Spiralen im Op-Art-Stil gibt mit einer Drehung den Blick in eine altdeutsche Wohnstube frei, in der Nathanaels Familie haust. Mama strickt, Papa zitiert Carl Schmitt und schimpft auf die »pervertierte Liberalität«.

Maximilian Lindner hat ein tolles Bühnenbild gezaubert für Robert Gerloffs Adaption von Hoffmanns Erzählung. Darin steigert sich Nathanael, verstört von einem Ammenmärchen über einen den Kindern die Augen raubenden Sandmann, in wahnhafte Ängste, dämonisiert den Advokaten Coppelius, der mit seinem Vater alchemistische Experimente betreibt, und später den Wetterglashändler Coppola. Er entfremdet sich seiner rationalistischen Verlobten Clara und verfällt in narzisstischer Liebe der schönen Olimpia, die sich als ein mechanischer Apparat entpuppt.

Gerloff entfacht ein fantastisches Spukfeuerwerk mit Stummfilmanleihen und Horroreffekten. Es klackert und donnergrollt, über einer Tür erscheint eine blutrote Hand. Zu gleich versucht seine postmoderne »Sandmann«-Verfremdung den Text politisch zu lesen, an ihm die Verwurzelung des faschistischen Denkens in der Romantik zu demonstrieren. Dafür aber gäbe es weit besser geeignete Vorlagen als Hoffmanns komplexe, mit kritischer Ironie gebrochene Schauergeschichte.

Bei dem – so Freud – »unerreichten Meister des Unheimlichen« kann man nie ganz sicher sein, wo die Trennlinie zwischen Wahn und Wirklichkeit verläuft. Bei Gerloff herrscht Eindeutigkeit, wird die Präsenz des Bösen zweifelsfrei real. Die sinistren Verführerfiguren sind rechte Demagogen. Statt sich voneinem Turm zu stürzen, schließt sich Nathanael der völkischen Bewegung an.

In wilden Sprüngen jagt Gerloff durch die deutsche Geschichte und eine Zitatenorgie, die von Goethe über Ernst Jünger, Marinetti und Sloterdijkbis »Casablanca« reicht. In Anlehnung an Bertoluccis Film »Die Träumer«vergnügen sich Nathanael, Clara (Anna Graener) und ihr Bruder Lothar (Arthur Klemt) mit einem Cineastenquiz. Vielstimmig erschallt Ernst Moritz Arndts »Vaterlandslied«. Das DDR-Sandmännchen spricht italienisch und Reich-Ranicki schaut als Witzfigur vorbei.

Irgendwann wird in der Überfülle alles einerlei. Man beginnt sich zunehmend darüber zuärgern, wie unbekümmert Gerloffs mit der Dramaturgin Angela Obst erstellte Spielfassung Zitate zusammensampelt, ihre Materialsammlung schludrig mit dem Text kurzschließt und pfeilgerade politische Kontinuitäten suggeriert. Aber da ist ja auch noch das Spiel mit Theaterzaubereien und Schaueffekten, und das beherrscht der Regisseur fabelhaft. Zudem kann er sich auf ein feines Ensemble stützen.

Oliver Möller zeigt einen fieberhaft getriebene nNathanael, Aurel Mantheials Coppeliusund Coppolla ist ein geschniegelter Fiesling, Manfred Zapatka als Professor Spalanzani glänzt als rhetorischer Manipulator. So kann man an diesem Abend durchaus seine Freude haben – solange man nicht ernsthaft über ihn nachdenkt. ||

DER SANDMANN
Marstall| 24. Mai| 19.30 Uhr | 12. Mai, 23. Juni| 19 Uhr | 4., 17., 27. Juni| 20 Uhr
Tickets: 089 21851940

 


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