Das Festival Radikal jung im Münchner Volkstheater zeigt Arbeiten zwischen durchgeknallter Komik und bierernster Selbstbespiegelung.

Christina Tscharyiskis Doppelinszenierung »Revolt. She said. Revolt again. Mar-a-Lago« vertraut auf die Kraft von Bildern. | © Julian Röder

Am Sonntag ist das diesjährige Festival Radikal jung mit einer fast überbordenden Bandbreite von Produktionen zu Ende gegangen. Unter den 14 Inszenierungen waren elf, die in München noch nicht zu sehen waren. Deren Themen reichten von der sehr persönlichen Performance »White [Ariane]« des Venezolaners Ariah Lester bis zu Philipp Moschitz’ musicalhafter Verheutigung von Eugèn Labiches Mehr-Schein-als-Sein-Komödie »Um die Wette« von 1861, im Original »La poudre aux yeux«, was bedeutet, dem anderen Sand in die Augen streuen. Sand in die Augen zu streuen versucht auch das Performancekollektiv The Agency mit »Medusa Bionic Rise«. Verbissen wurde im ehemaligen Bürokomplex in der Zschokkestraße 36 von jungen und sportlichen Performern trainiert. Um Körperertüchtigung ging es aber eigentlich gar nicht. Begab man sich in den Konferenzraum, bekam man eingetrichtert, dass wir unsere Daten durch »unconsiousless consuming« an Firmen geben und uns dadurch kontrollieren und überwachen lassen. Wer hätte das gedacht? Die dünne Botschaft wurde in jede Menge aufgepumptes Gepose gesteckt und bildet damit vielleicht eine gewisse Oberflächlichkeit der Gesellschaft ab, bleibt als Performance allerdings auch reichlich hohl.

Wesentlich bescheidener kommt da die Gruppe Animal Architecte von Camille Dagen und Emma Depoid daher, die 2017 in Strasbourg gegründet wurde. Hélène Morelli und Thomas Mardell führen mit ein paar Begriffserklärungen die Bandbreite der Schlagwörter jung und radikal vor, bevor sie in »Durée d’expositon« einsteigen. Darin geht es um den Vorgang, einen analogen Film zu verknipsen und zu entwickeln. Man weiß nie, was rauskommt und hat am Schluss ein paar Bilder von etwas, das vergangen ist und nie wiederkehrt. Wie eine Beziehung, die vorbei ist. Die stellen sie kitschfreudig mit Glitter und »Titanic«-Titelsong nach, lassen tragisch Textzeilen aus Racines »Bérénice« einfließen, in der Titus seiner Liebe aus Staatsräson entsagt, berserkern sich im Happeningmodus durch die Verzweiflung des Liebeskummers und stellen den Entwicklungs- und Fixiervorgang eines Fotos nach. Dabei streifen sie mit ihrer charmanten Performance auch Teile der Theatergeschichte und kommentieren sie sanft ironisch.

Klassenkampf und Therapiesitzungen

Nach dem Applaus zu urteilen hätten die Möchtgernaufsteigerkomödie »Um die Wette« oder Nora Abdel-Maksouds ironisch komische und sozial relevante Komödie »Café Populaire« den Publikumspreis bekommen müssen. Abdel-Maksoud belebt eine zu Unrecht völlig aus der Mode gekommene Kulturtechnik wieder: den Klassenkampf. Ohne zu langweilen, ohne zu zeigefingern, ohne verquast zu theoretisieren, entlarvt sie mit der Geschichte der Hospizclownin Svenja und des Dienstleistungsproletariers Aram mit fabelhaften Schauspielern die Verachtung von uns Bürgern für diejenigen, die wir für unter uns stehend halten, und stellt klar: Das Grundproblem ist ein Mangel an Solidarität und Empathie.

Nach den eher verhaltenen Publikumsreaktionen wundert es ein wenig, dass der Publikumspreis dann an Lesters Therapiesitzung »White [Ariane]« ging. Der ausgebildete Tänzer umkreist darin reichlich pathetisch die Liebe seiner Mutter zu ihrer ungeborenen Tochter, die ein homosexueller Sohn wurde, und kleidet ihre Briefe in mainstreamige R’n’B-Songs, in denen er mit stimmlicher Bandbreite glänzt. Kunstgewerbliche Videos illustrieren simpel die Gefühlwelten von Mutter und Sohn, dem der Großvater einschärft, sich eine blonde Weiße zu suchen, »um die Rasse zu verbessern«. Doch ausgerechnet im grellen Kostüm aus roten Fetischstiefeln, Pumphose, Paradiesvogelbolero und blondgelb hingeschniegelten Haaren spiegelt sich die Figur des Konquistadoren und scheint die Geschichte von Unterdrückung durch, die sich bis ins 21. Jahrhundert nicht nur im undemokratischen politischen System Venezuelas, sondern auch in der Ausgrenzung von Minderheiten weltweit fortsetzt. So erhält die Performance doch noch eine über Selbstbespiegelung hinausreichende Komponente.

Was man von Julia*n Medings Auseinandersetzung mit Agoraphobie und ihren Bewältigungsstrategien in Anta Helena Reckes »Angstpiece« nicht sagen kann. Mittels eines verschlungenen Gedankenraums baut Meding sich einen sicheren Ort, an den sie sich bei Angstattacken zurückzieht. Nur nimmt man ihr die Angststörung und die daraus resultierenden Lebenseinschränkungen nicht ab, auch wenn die Angst vor dem Auftritt ausführlich inszeniert ist. Und so bleibt von der Produktion nicht mehr als die affektierte Selbstbetrachtung einer Person, für die die Welt ein Ponyhof ist, auf dem sie frei nach Pippi Langstrumpf alles so ändert, »bis ich mich ganz wohlfühle«.

Gewalt und Feminismus

Da nimmt Julia Mounseys Spiel mit Identitäten in »(50/50) Old school animation« viel mehr gefangen. Die mädchenhafte, schmale Performerin steht einfach da und beschreibt völlig unberührt, wie sie andere Menschen, besonders ihre Freundin Mo, quält. Und man hält es für möglich, obwohl man weiß, dass es Fake ist. Mounsey und Peter Mills Weiss entlehnen den Titel ihrer Performance über Gewalt einem sadistischen Animationsfilm, dessen Inhalt Mounsey ausführlich beschreibt. Im zweiten Teil der Performance tritt dann Mo (Mo Fry Pasic) auf, das Opfer und derart nervige American Girl, dass man ihr auch wie Julia die Nase umdrehen möchte.

Um Gewalt gegen Frauen, in Beziehungen, in der Arbeitswelt, in der Familie geht es in Alice Birchs »Revolt. She said. Revolt again.« Aber eigentlich geht es darum, dass der Feminismus in fünfzig Jahren nicht viel erreicht hat. Dazu passt auch Marlene Streeruwitz’ »Mar-a-Lago«, in dem fünf Schauspielerinnen und Exgeliebte eines Regisseurs sich in die eigene Tasche lügen und das System bedienen. Christina Tscharyiski besetzt diesen Doppelabend mit einem Ensemble aus drei Frauen und zwei Männern, was schon mal ein Statement zu Streeruwitz’ Text ist, und choreografiert Birchs Szenen unterdrückter Gewalt teils mit comichafter Lustigkeit. Dazu flackern Dominique Wiesbauers konterkarierende Videos über die Rückwand und Ebow strukturiert das Ganze mit feministischem Rap. Das unterhaltsame Gewimmel dient dazu, die bittere Erkenntis psychischer und physischer Gewalt umso mehr knallen zu lassen, doch verdeckt es sie manchmal einfach nur.

Lehren aus der Geschichte?

Historisch wird es in Florian Fischers Dokumentartheaterstück »Operation Kamen«. Der tschechische Geheimdienst verführte zwischen 1948 und 1951 ungefähr 300 Menschen zur Flucht aus dem Land, gaukelte ihnen eine Grenzstation mit amerikanischen Soldaten vor und entlockte ihnen so sämtliche Informationen, bevor er sie einsperrte und 16 von ihnen zum Tode verurteilte. Lukas Rüppel führt als Conferencier durch den Abend, schiebt Regale mit historischen Versatzstücken über die Bühne und flüstert uns über Kopfhörer Paranoia und Zweifel ein, so seltsam nahe, dass das eigentlich trockene Dokumentarstück unerwartet atmosphärisch wird. Auf einer Leinwand im Hintergrund stellen zehn Dresdner Bürger in Schwarz-Weiß die Flucht der Tschechen nach, suchen gehetzt im Wald den Weg in die Freiheit. So beleuchtet Fischer nicht nur vergangenes Unrecht, sondern schlägt auch eine Brücke in die Gegenwart und ihre Politik.

Um die, genauer um Europa, geht es in Robert Menasses Roman »Die Hauptstadt«, in dem er ein Panoptikum Brüsseler Kulturbeamter einen wahnwitzigen Jubiläumsplan aufstellen lässt, der Auschwitz als Keimzelle der Europäischen Union ausmacht. So weit, so aberwitzig. Lucia Bihler bastelte daraus eine verschrobene Figurenchoreografie, die allerdings offen ließ, was sie am Thema Europa interessiert. Thomas Köck wird da in »Dritte Republik« deutlicher. Europa vermessen oder das, was nach dem Ersten Weltkrieg davon übrig geblieben ist, möchte die Landvermesserin in seiner an Kafka angelehnten Geschichte. Die Unsinnigkeit von Grenzen, willkürlich gezogen auf einer Landkarte, wird in der Figur der erblindeten Pilotin deutlich, die im Fallschirm feststeckt. Köck hat sein Stück zusammen mit Elsa-Sophie Jauch selbst inszeniert, doch für die teils klugen Erkenntnisse zu Nationen und Grenzen nur eine zerfaserte Struktur mit einer Menge Wind und Nebel und einigen schauspielerischen Glanzlichtern gefunden.

So schwer die Themen auch manchmal daherkommen mögen, viele der Regisseurinnen packen sie mit einer erstaunlichen Portion Komik an, die sogar ins Kalauerige gehen kann. Was das Festival insgesamt zu einem großen Spaß gemacht hat.

 

 


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