Die Britin Pippa Goldschmidt wagt sich in die Tiefen des Raums um Welt und Ich.
Pippa Goldschmidt: »Von der Notwendigkeit den Weltraum zu ordnen«
Poesie des Alls
Manche Menschen geraten unter Druck, wenn sie über Literatur sprechen sollen. Andere verlieren die Sicherheit, sobald es um Physik geht. Die 17 Geschichten von Pippa Goldschmidt, die nun auf Deutsch vorliegen, verbinden beides. »Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen« kreist um Physik, schließlich ist die Autorin promovierte Astronomin. So sind etliche Texte wissenschaftlich grundiert. Albert Einstein oder Robert Oppenheimer (»Vater der Atombombe«), aber auch Bertolt Brecht werden zu Protagonisten von Goldschmidts Geschichten. Die Autorin erzählt von der ersten, geheim gehaltenen Tochter Einsteins, oder von Erstaunlichem wie der chemischen Kastration des homosexuellen Informatikers Alan Turing in den 1950er Jahren.
Die Frauenfiguren in den Geschichten, Wissenschaftlerinnen oder Zuarbeiterinnen von Wissenschaftlern, sind denmännlichen mindestens ebenbürtig und ordnen sich doch häufig unter. Von den Männern werden sie nicht ernst genommen. Sympathie schwingt mit, wenn Goldschmidt vom gewaltsamen Kampf der englischen Sufragetten um das Frauenwahlrecht inklusive Bombenanschlägen erzählt.
In der Story »Wie korrekt muss man sein …« ist die Erde von einem Asteroiden bedroht. Eine Frau hat den Kleinplaneten entdeckt und berechnet, dass er die Erde verfehlen wird. Doch der Ruhm für ihre Entdeckung soll ihr genommen werden. Im Fernsehinterview behauptet sie daraufhin eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Kollision, die ähnliche Folgen hätte wie die Explosion einer Atombombe. Es schlummert Wut und latente Rachelust in den Texten über die Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts.
Den Erzählungen über die Verfolgung der Juden im Naziregime liegt Goldschmidts Familiengeschichte zugrunde. Ihr Großvater stammte aus Deutschland. Im Buch erzählt sie von einem Mann, der 1935 in Deutschland seine Staatsbürgerschaft verliert und emigrieren muss, von einer Großmutter, die sterbend im Krankenhaus zum ersten Mal ärmellose Kleidung trägt, sodass die eintätowierte Nummer auf ihrem Arm zu sehen ist. Oder sie schildert den latenten Antisemitismus, der Oppenheimer in Cambridge begegnet. Es sind eindringliche, leise Erzählungen, in denen sie den europäischen Rassismus und die Shoa behandelt.
Auch Witz prägt diese Erzählungen. Etwa wenn eine Protagonistin einen sprachgesteuerten Lift aus dem Konzept bringen will, indem sie fordert, nach Pi gefahren zu werden. Die Folge: eine nicht endende Berechnung des genauen Ziels. Worum auch immer Goldschmidts Geschichten kreisen:immer gilt es, getrennte Welten zu verbinden. Den Weltraum zu ordnen, bedeutet, aus dem (vermeintlichen) Chaos einen Kosmos zu machen. Doch wer weiß schon, wo der Weltraum beginnt und wo er endet – und, wo das Ich beginnt und wo es endet. ||
PIPPA GOLDSCHMIDT: VON DER NOTWENDIGKEIT, DEN WELTRAUM ZU ORDNEN
Aus dem Englischen von Zoë Beck | CulturBooks Verlag, 2018
224 Seiten | 20 Euro
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