Sie hat schon vier neue Projekte im Kopf, dabei ist ihr jüngstes Buch gerade erst erschienen. In ihrer phänomenalen Produktivität, »ihrer Vielseitigkeit, ihrem Sachverstand, ihrer Fähigkeit eingängig zu schreiben«, konstatierte der »Spiegel«, sei die Münchnerin Eva Gesine Baur nur mit der Amerikanerin Joyce Carol Oates zu vergleichen. Die »Süddeutsche Zeitung« nannte die 58-Jährige »eine der fleißigsten Autorinnen Bayerns«.
»Fleiß«, meint sie, »ist für mich eine Art Leidenschaft. Ich wehre mich gegen die Abwertung des Fleißes. Alle Künstler, die ich bewundere, waren sehr fleißig.« Das Geheimnis ihrer Produktivität ist die Disziplin, mit der sie Ablenkungen widersteht, die einen gewöhnlichen, verführbaren Zeitvergeuder schamvoll erblassen lässt. »Ich surfe nie im Netz«, erklärt sie, »ich schaue nicht fern.« Wenn sie arbeitet, dann lässt sie sich von nichts stören. Was immer sie macht, sie tut nichts anderes nebenbei. Sie hört keine Musik beim Kochen (»Ich übe das Zen des Zwiebelschneidens.«) oder beim Joggen, von dem sie kein Regen oder Kater abhält.
Eva Gesine Baur hat Biografien über Mozart, Chopin, Charlotte Schiller und Marlene Dietrich verfasst und schreibt unter dem Pseudonym Lea Singer Romane, die sich zumeist mit Personen der Kulturgeschichte beschäftigen. Als biografisch-historische Romane werden diese oft bezeichnet, das, betont sie, sei falsch. Einen Lebenslauf belletristisch nachzuzeichnen, reizt sie nicht. Sie sucht nach einer »Metaebene«, einem Thema, das über Einzelschicksale hinaus Gewicht hat. Sie erzählt von den inneren Versehrungen durch familiäre Machtverhältnisse und den Dramen begabter Kinder wie in »Konzert für die linke Hand« über den Pianisten Paul Wittgenstein. Sie fächert diffizile Liebes-und Dreiecksgeschichten auf wie in »Verdis letzte Versuchung«. Sie hat in »Anatomie der Wolken« die eifersuchtsvergiftete Begegnung des in seinem »Denkmaldasein« gefangenen Goethe mit dem jungen Romantiker Caspar David Friedrich ausgemalt. Sie hat in »Poesie der Hörigkeit« Mopsa Sternheims Obsession für Gottfried Benn nachgespürt – wie einfühlsam und sprachlich nuanciert sie die Verwirrungen der kleinen Mopsa schildert, gehört mit zum Schönsten, was Lea Singer geschrieben hat.
Oft beschränkt sie sich auf einen Ausschnitt einer Biografie, wie in ihrem neuen, auf Briefen basierenden Roman »Der Klavierschüler« über die verbotene Liebe zwischen dem mit Toscaninis Tochter verheirateten Vladimir Horowitz und dem jungen Schweizer Pianisten Nico Kaufmann in den 1930er Jahren. »Ich wollte«, so Baur, »der Frage nachgehen, was es für das Lebensglück eines Menschen bedeutet, wenn er sich selbst verleugnet.« Dafür hat sie eine Rahmenhandlung erfunden, in der ein Schweizer, der mittels einer Sterbeagentur seinen Suizid geplant hat, 1986 den Barpianisten Kaufmann trifft, der ihn auf eine Reise in die Vergangenheit mitnimmt. Bei aller Lust an der Fiktionalisierung ist jeder ihrer Romane akribisch recherchiert. »Lea Singer«, befand der NDR, »versteht es, Honig aus ihren Recherchen zu saugen.« Horowitz fasziniert sie schon seit langem. Wenn sie erzählt, wie sie ihr letztes Geld zusammenkratzte, um sein legendäres Konzert 1987 in Berlin zu hören, klingt dies, als sei es gestern gewesen. Immer wieder stockt ihre helle melodische Stimme, während sie »die Kostbarkeit seiner Präsenz«, »den Wagemut dieses fragilen alten Mannes, der alles riskierte um des Klanges willen« beschreibt. »Er balancierte wie ein Schlafwandler auf dem Dachfirst.«
Eva Gesine Baur kann Menschen mit rückhaltloser Hingabe bewundern. »Verehren«, sagt sie selbst. Das bedeutet nicht, dass sie idealisiert. Sie misstraut vorbildlich glattgeschliffenen Fassaden. Es sind die Brüche, Läsionen und Widersprüche, die sie interessieren und die sie in ihren Romanen auszuloten versucht. Oft aus der Perspektive von Personen, die im Schatten großer Künstler stehen wie Mathilde Schönberg oder Nico Kaufmann. Das schärfe den Blick. »Mein Vater war Architekt und brachte unsbei:Du erkennst einen gefälschten Schrank daran, dass die Rückwandperfekt aussieht.« Doch es geht ihr nie darum, jemanden bloßzustellen oder den verkaufsfördernden Kitzel des Skandalösen zu bedienen. Sie zitiert Horowitz’ Codierungen für den Liebesakt als Chopin-, Brahms- oder Jonnyspiele. Daneben aber stieß sie in Kaufmanns Nachlass auf einige sexuell explizite Briefe. Die hat sie ausgespart. Auch wer berühmt ist, habe ein Recht auf Diskretion.
Sie selbst möchte in ihren Romanen ausgeblendet bleiben. »Ich finde es fast prostitutiv, wenn sich jemand wie ich mit einem völlig bedeutungslosen Leben schreibend entblößt. Das wäre nur Schwätzen.« Das ist freilich nicht wahr, weil auch aus einem kleinen, scheinbar belanglosen Leben große Literatur werden kann. Ihre eigene Biografie ist frei von Dramen und Tragödien und dafür, sagt sie, sei sie sehr dankbar. Sie hatte eine ungewöhnlich freie Kindheit mit einem Vater, »der sich zum merkantil dämlichsten Zeitpunkt selbstständig machte, um mehr Zeit für uns zu haben«, einer Mutter, die sich für neue pädagogische Konzepte wie Summerhill begeisterte, klassischem Musikunterricht und vielen Büchern, die uneingeschränkt allen offen standen.
Sie hat Literatur- und Musikwissenschaften und Gesang studiert, in Kunstgeschichte promoviert, ist mit einem Psychoanalytiker und Therapeuten verheiratet und wohnt in einer traumhaften Wohnung mit hohen Bücherwänden in Schwabing. Sie ist klug, schön und erfolgreich. Dennoch, sagt sie, sei ihr kein Gefühl, über das sie schreibt, fremd. »Ich war immer von depressiven Menschen umgeben. Ich kenne sämtliche schwarzen Gefühle, Eifersucht, Missgunst, tiefe Selbstzweifel – alle.« Aus Unsicherheit und zum Selbstschutz hat sie vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans das Pseudonym Lea Singer erfunden. Der Name hat mit ihr persönlich zu tun, aber mehr mag sie dazu nicht sagen. »Meine Person«, erklärt sie beharrlich, »ist unwichtig und völlig uninteressant. Ich möchte mein Leben lang im Schatten bleiben.« Wirklich im Schatten steht die Schriftstellerin Eva Gesine Baur natürlich nicht. Aber vielleicht bedeutet die literarische Beschäftigung mit sehr berühmten Menschen für sie ja einen glücklichen Kompromiss: schreiben zu können und dabei (fast) nichts von sich preiszugeben.
DER KLAVIERSCHÜLER – LESUNG MIT LEA SINGER
Moderation: Knut Cordsen (BR) | Literaturhaus| Salvatorplatz 1 | 11. März| 20 Uhr
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