In Gaspar Noés »Climax« wird die Aula einer Schule zum sinnbildlichen Höllenschlund einer zerbrechenden Gemeinschaft.
Der Morgen nach einer Nacht im Club, nach exzessivem Feiern, Tanzen, Drogen wird im Kino heute gern im Gegenlicht erzählt. Meistens sitzen da junge Menschen und schauen in eine blutorange Sonne, die über eine Großstadtsilhouette steigt, oft fällt dann ein Kopf auf die Schulter des Nebenans oder ein Arm. Es sind halkyonische Momente, Augenblicke seelischer Vollkommenheit, die glückliche Ruhe nach dem Rausch. In Gaspar Noés neuem Film »Climax« ist der Morgen nach der Ekstase wie ein Negativabzug dieser Partyfilmkonvention. Eine Frau taumelt durch eine Schneelandschaft, die so grau und weiß und total ist, dass sie auch eine Wolkenbank sein könnte. Ihre bloßen Schultern, ihr nackter Hals blutverschmiert. Irgendwann fällt sie in diesen Schneehimmel, schlägt noch einmal mit Armen und Beinen aus, hinterlässt den blutroten Abdruck eines sterbenden Schneeengels. Die Ekstase, das Heraustreten aus dem Ich, aus den gesellschaftlichen Konventionen, endet bei Noé im Tod.
Gaspar Noés Filme waren schon immer Horrortrips. In »Irreversible« etwa erzählt er die Geschichte einer brutalen Ermordung, die als Reaktion auf eine Vergewaltigung in einer Pariser Unterführung passiert, rückwärts. Dabei ist es die Harmonie, in der der Film endet, die am schwersten zu ertragen ist. Noés Filme basieren immer auf einer einzigen Idee, die dann bis an ihr äußerstes Ende durchdekliniert wird. In »Climax« ist das die Idee eines kollektiven Horrortrips. Eine Gruppe junger Tänzer probt in einer Schule für ihre Amerikatournee. Es ist der letzte Abend vor dem Abflug; nach der Probe wird gefeiert. Doch irgendjemand hat heimlich LSD in die Sangria gemischt. In kürzester Zeit kippt die Party, und es beginnen Dutzende Horrorszenarien. Eine Mutter sperrt ihren kleinen Sohn in eine Kammer voller Starkstromleitungen und verliert den Schlüssel. Ein junger Kerl, der seine Schwester beschützen will, wird plötzlich geil auf sie. Leute vögeln, prügeln, ritzen und zünden sich an zum nie enden wollenden Elektrobeat und unter einer monströs großen Trikolore, die hallenwandhoch von der Decke baumelt. Die Aula dieser französischen Schule wird zum Höllenschlund, und die Gemeinschaft darin zerbricht in ihre Einzelteile aus Trieben und Paranoia.
In »Climax« gibt es keinen Höhepunkt.
Alles wird immer nur schlimmer, der Trip zur Metapher einer gesellschaftlichen Verfallsgeschichte. Aber man muss diese übertragene Ebene des Films gar nicht zu ernst nehmen. Denn das wirklich Beeindruckende an »Climax« ist die Choreografie dieses Zerfalls. »Climax« ist ein einziger Tanz und – wenn man dem Regisseur glauben darf – dabei zu großen Teilen improvisiert, was den Film nur noch atemberaubender erscheinen lässt. Das ist »La La Land« auf Acid. Und zwar im Guten wie im Schlechten. Noé hat mit Climax erneut einen Film gemacht, der einen allein mit dem Vorschlaghammer seiner bloßen Körperlichkeit umhaut. Wo er diese Körperlichkeit in seinem letzten Skandalfilm »Love« im Pornografischen suchte, findet er sie diesmal mit weit mehr Erfolg in den Bewegungen des Tanzes. Es ist Noés bester Film seit Langem. ||
CLIMAX
Frankreich 2018 | Regie: Gaspar Noé | Mit: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub u.a. | 93 Minuten |Kinostart: 6. Dezember
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