Der legendäre Circus Oz präsentiert seine neue Show »Model Citizens« bei Tollwood.
Er ist älter als der Cirque du Soleil und gehört neben diesem zu den wichtigsten Wegbereitern für den weltweiten Siegeszug des Noveau Cirque. Als der 1978 gegründete Circus Oz vor 24 Jahren erstmals beim Winter-Tollwood gastierte, erntete er Jubelstürme. Er habe sich Hals über Kopf in die Australier verliebt, bekannte der SZ-Kritiker, und der Rezensent der AZ schwärmte: »Ich habe die Zukunft des Zirkus gesehen!« Inzwischen sind die Zuschauer mit fantastischen akrobatischen Inszenierungen verwöhnt, doch wenn man den Kritiken des Jubiläumsprogramms zum vierzigjährigen Bestehen des Circus Oz glauben kann, dann dürfte auch diesmal die Begeisterung groß sein.
Die neue Show, die heuer beim Tollwood-Festival Deutschlandpremiere feiert, will unsere Wahrnehmung der Normalität verrücken. »Model Citizens« verwandelt überdimensional vergrößerte Alltagsgegenstände wie Scheren und Dampfbügeleisen in Turn- und Spielgeräte und verknüpft atemberaubende Akrobatik mit Einsprengseln satirischer Gesellschaftskritik. Die Gäste aus Down Under klettern auf eine Menschenköpfe überragende Sicherheitsnadel oder eine gigantische Waage, machen einen Handstand und einen Rückwärtssalto auf der Spitze einer Wäscheklammer. Sie errichten einen Turm aus Kreditkarten, den einer von ihnen erklimmt, ehe das fragile Gebilde zusammenstürzt – ein gewitzter Kommentar zu der Illusion des grenzenlosen Geldflusses und zum Wirtschaften auf Pump. Ein armer Schlucker soll in Zwangsjacke beim Barbecue geröstet werden, weil er seine Rechnungen nicht bezahlt hat. Eine in einem riesigen Martiniglas liegende Frau jongliert mit ihren Füßen Cocktailschirmchen.
Entstanden ist der Circus Oz aus dem Geist der Theater- und Performanceszene der 1960er und frühen 1970er Jahre und einem romantisch besetzten Zirkusbegriff. Die Hinwendung der Künstler zum Zirkus entsprang nicht nur der Suche nach neuen rockigen Spielarten des physischen Theaters, sondern auch der Sehnsucht nach alternativen Lebens- und Arbeitsformen, nach kollektiven Besitzverhältnissen und gleichberechtigten statt hierarchischen Strukturen. Keines der ursprünglichen fünf Gründungsmitglieder kam vom klassischen Zirkus. Um artistisches Spitzenniveau zu erreichen, war ein harter Lernprozess nötig. Acht Monate lang trainierte die Compagnie aus Melbourne gemeinsam mit der chinesischen Nanjing Acrobatic Troupe, deren Techniken sie auf ihre ganz eigene Weise abwandelte. Eines der Markenzeichen des Circus Oz ist die Selbstironie und Komik. Mit dem rasch wachsenden Erfolg, der zu Gastspielen auf fünf Kontinenten führte, hat sich vieles verändert. Aus der Gruppe von Träumern ist längst ein international agierendes Unternehmen geworden. Trotz allem aber, betonen die Australier immer wieder, seien sie ihrer ursprünglichen Philosophie treu geblieben, zu der neben dem Verzicht auf Tiernummern ihr vielfältiges soziales Engagement gehört, etwa durch die Unterstützung von Aborigines und Obdachlosen, durch Hilfsprogramme für Migranten und Workshops in Jugendstrafanstalten.
Der neue künstlerische Direktor des Circus Oz, Robert Tannion, der sechs Jahre lang beim DV8 Physical Theatre in London arbeitete und mit Klaus Obermaier in der Tanz-Medien-Performance »Apparition« einen visuellen Rausch entfesselte, versteht seine Debütshow nicht zuletzt als Auseinandersetzung mit der australischen Identität und Plädoyer für Individualität und Diversität wider den genormten Modellbürger. Auch die Livemusik in »Model Citizen« ist von bissigen Kommentaren zu den sozialen Verhältnissen durchzogen, wie die Grillhymne »Worship my Weber« und das gesungene Be kenntnis »I love diversity … just not in my backyard«. Vor allem aber verspricht Tannion mit der zweistündigen Show, zu der in bester Tollwood- Tradition auf Wunsch ein mehrgängiges Menü serviert wird, natürlich gute Unterhaltung zu bieten, ein originelles zirzensisches Gesamtkunstwerk zum Lachen und Staunen. ||
MODEL CITIZENS
Tollwood Grand Chapiteau| 1.–31. Dez.| Di bis Sa 20 Uhr
So 16.30 | 16. Dez.| 14 und 20 Uhr | montags und 25.12. keine
Vorstellung | wahlweise mit Menü (dann andere Anfangszeiten)
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