Welches Stück schenkt sich ein Intendant als Abschiedsinszenierung? Martin Kušej hat die Boulevard-Farce »Der nackte Wahnsinn« gewählt. Mit großem Erfolg.
Verblüffung und Skepsis bei vielen: Kušej schätzt düstere Tragödienbrocken, Humorbegabung wird ihm nicht nachgesagt. Falls er vor seinem Wechsel ans Burgtheater beweisen wollte, dass er auch leichtfüßige Unterhaltung kann, ist es ihm gelungen: Im Residenztheater klatschte das Premierenpublikum begeistert im Takt. Die fabelhaften Schauspieler haben’s verdient, der Regisseur wirkte glücklich.
Der Brite Michael Frayn schrieb 1982 die genial gebaute Meta-Komödie »Der nackte Wahnsinn« über das Theater und das Boulevardgenre, eine boshafte Parodie aufs Metier, die aber alle Regeln der Kunst bedient. Die Herausforderung: Gute Schauspieler müssen schlechte Schauspieler in einer grottenschlechten Schlafzimmer-Farce spielen. Drei Akte zeigen das Making of und den Verfallsprozess der Aufführung im Stück. Zuerst die Generalprobe im 80er-Jahre-Wohnzimmer (Bühne: Annette Murschetz): Treppe nach oben, Bücherwand, rotes Sofa, viele Türen fürs permanente Klipp-Klapp. Natürlich funktioniert nichts: Die Haushälterin (Sophie von Kessel war noch nie so verschlampt komisch) vergisst ständig einen Teller Sardinen. Ein Immobilienmakler will die leere Villa für ein Sex-Date mit einem Blond-Dummchen nutzen, dann taucht das Besitzerpaar auf, offiziell auf Steuerflucht in Spanien. Versteckspiele, Türen klemmen, Inspizient Klemt soll alles richten und noch für den verpennten Einbrecher Paul einspringen. Aus dem Parkett schreit genervt der Regisseur Martin K. mit Nerd-Brille und schwarzem Rolli.
Kušej hat den Text leicht auf Münchner Verhältnisse aktualisiert, gönnt sich etwas Selbstironie und kleine Seitenhiebe auf Konkurrenz und Kritik. Die meisten Resi-Schauspieler tragen ihre echten Vornamen, nur Norman Hacker heißt wie der echte Regisseur und Nora Buzalka als verhuschte Regieassistentin Mechthild wie dessen echte Assistentin. Wochen später: RoutineVorstellung in der Provinz, diesmal backstage erlebt. Hinter den Kulissen haben sich die Liebesund Eifersuchtsverhältnisse mächtig zugespitzt, man schlägt und küsst sich. Die Schauspieler sind großartig: Allen voran spielt Genija Rykova den Blondinenwitz in Unterwäsche ohne jede Peinlichkeit. Wenn sie die Kontaktlinsen verliert, knallt sie halb blind gegen jedes Hindernis, torkelt und fällt artistisch. Ihre Konkurrentin Kata (Katharina Pichler) im gelben Leo-Look wird zur Furie, der Liebhaber (Till Firit) will schlichten und schwingt die Axt.
Thomas Loibl als steuerflüchtiger Jammerlappen mit Selleck-Schnäuzer und blutigen Nasenstopfen kämpft mit runtergelassenen Hosen. Der verpennte Einbrecher (Paul Wolff-Plottegg) greift sich jede Whiskyflasche, Inspizient Arthur Klemt sprintet von einem Auftrag des hektischen Regisseurs zum nächsten, die Blumen landen bei der falschen Frau. Das Tempo ist enorm, das Chaos auch, doch hochpräzise stolpern alle gerade rechtzeitig zum Auftritt. Letzte Vorstellung, wieder von vorne gezeigt: Aufführung und Schauspieler sind abgewrackt. Alles geht schief, Türklinken fallen ab, Sardinen auf den Boden. Rien ne va plus. Das Theater hat sich selbst dekonstruiert zum nackten Wahnsinn. Dem fügt Kušej interpretatorisch nichts hinzu, zeigt aber gekonntes Handwerk. ||
DER NACKTE WAHNSINN
Residenztheater| 6., 19. Nov.| 19.30 Uhr
18. Nov.| 19 Uhr | Tickets: 089 21851940
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