Literatur als Schauspiel der Sinne: »Der Himmel wurde jetzt farbig, die Wolken am Horizont bekamen dicke goldene Säume und eine Welle von Rot übergoss den Himmel. Auch in das Graugrün des Meeres mischten sich
blanke Fäden, und die Höhlungen der brechenden Wellen am Strande füllten sich mit Rosenrot, und plötzlich begann das Meer weiter dem Horizonte zu ganz in Rotgold zu brennen.« Bei kaum einem anderen Schriftsteller gehen Farben, Gerüche und Geräusche ein so inniges Verhältnis ein wie bei Eduard von Keyserling, der am 28. September vor 100 Jahren in München gestorben ist und auf dem Nordfriedhof begraben liegt.
»Wellen« heißt der Roman von 1911, aus dem das Zitat stammt, das einen Eindruck von der synästhetischen Kunst Keyserlings vermittelt. Wer handlungsreiche Geschichten schätzt, der wird bei dem 1855 auf dem Gut Tels-Paddern im damaligen Kurland, heute Lettland, Geborenen kaum fündig. Keyserling ist in erster Linie impressionistischer Sprachkünstler. Er kann die Worte so zart hintupfen, dass sich in die Leichtigkeit Wehmut und Melancholie mischen. Er kann ihnen aber auch einen ironischen Beigeschmack verleihen, sodass sich eine gewisse Distanz zu den überwiegend aristokratischen Figuren einstellt, die da auf Landsitzen und Schlössern herumschlendern.
»Fontane in Moll« hat man Keyserling schon früh genannt, und in »Wellen« passiert erst einmal nicht mehr, als dass die Generalin von Palikow samt Entourage an der Ostsee leidenschaftlich eine Dame ins Visier nimmt, die es gewagt hat, den Grafen Köhne-Jasky, ihren wesentlich älteren Gatten, zu verlassen und einen Maler zu heiraten. Doralice wandelt mit diesem häufig am Strand. Es ist unübersehbar ein Theaterarrangement, das hier entworfen wird, mit dem Meer als lichtdurchfluteter Bühne. Und doch darf man sich nicht täuschen lassen. Unter der Oberfläche brodelt es. Dem Roman ist ein Zitat von Baudelaire vorangestellt, das Gedicht »L’Homme et la Mer« aus dem »Blumen des Bösen«-Zyklus. Es ist als Lesehinweis unbedingt ernst zu nehmen, wenn es heißt, die Tiefen des Meeres seien ebenso wie die des Menschen niemals zu ergründen. Es ist die Zeit der Décadence, und das Unbewusste und die Sexualität, deren Nähe zum Tod, stehen hoch im Kurs. In »Wellen« gibt es hierfür ein eindrückliches Bild: ein Friedhof, auf den Doralice blickt, »von dem jede Sturmnacht ein Stück abschneidet wie von einem Kuchen, und aus dem Sande gucken dann all diese Stillen heraus und lassen sich den Seewind um die Knochen wehen.«
Zum Jubiläum erscheint der von Horst Lauinger kommentierte Band »Landpartie« mit Keyserlings »Gesammelten Erzählungen«, der an seinem Todestag am 28. September im Münchner Literaturhaus vorgestellt wird. In München sitzt Florian Illies auf dem Podium. Illies hat ein erhellendes Nachwort geschrieben (nur dass er Keyserling jede Ironie abspricht, irritiert), in dem er darauf hinweist, dass die »verdichtete Sinnlichkeit« des Œuvres auf Keyserlings Verlust des Augenlichts zurückzuführen ist.
Spätestens ab 1907 ist er aufgrund einer Rückenmarksschwindsucht infolge von Syphilis vollständig erblindet und musste »also alles vor seinem inneren Auge heraufbeschwören«. Wer gerade das wiederaufgelegte Buch »Im Dunkeln sehen. Erfahrungen eines Blinden« von John M. Hull gelesen hat, dem leuchtet Illies’ Argument unmittelbar ein. Hull beschreibt darin, wie er nach seiner Erblindung gelernt hat, mit dem »ganzen Körper« zu sehen. Keyserlings Hauptwerk, u. a. die Erzählungen »Am Südhang« und »Im stillen Winkel« sowie die Romane »Wellen«, »Abendliche Häuser« und »Fürstinnen«, entsteht erst in den verdunkelten Jahren. Er diktiert die Schloss-, Sommer- und später Kriegsgeschichten seinen Schwestern Henriette und Elise, mit denen er seit 1895 in München lebt, ab 1900 in der Ainmillerstraße.
Regelmäßig kehrt er in den Lokalen der Bohème ein, sitzt mit Frank Wedekind, Max Halbe und Erich Mühsam gemeinsam an den Tischen der »Torggelstube« oder des »Simplizissimus« und gefällt als scharfzüngiger Kommentator. Bis er immer kränker wird, sich zurückzieht. Keyserling selbst gab wenig preis von seinem dandyesken Leben, seinen Nachlass befahl er zu vernichten. Fotografien gibt es wenige, dafür das berühmte Bild, das Lovis Corinth 1901 am Starnberger See gemalt hat und das einen schon recht elenden Menschen zeigt. Es hängt in der Neuen Pinakothek, und Klaus Modick hat über seine Entstehung kürzlich den hübschen Roman »Keyserlings Geheimnis« verfasst. Der Titel ist auch eine Anspielung auf die Frage, warum Keyserling 1877/78 Dorpat (Tartu), wo er Jura studiert hatte, verließ, um nach Wien zu übersiedeln. Ist der Grund eine dubiose Geldgeschichte, die das Tuch mit der baltischen Adelsgesellschaft zerschnitt? Oder eine Affäre?
Er schreibt im Folgenden erste, noch dem Naturalismus verpflichtete Werke wie die Romane »Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe« (1887) und »Die dritte Stiege« (1892). »Landpartie« wartet nun als Ergänzung zum bislang bekannten Frühwerk mit fünf wiederentdeckten, noch nie veröffentlichten Geschichten auf, darunter auch die allererste Arbeit »Nur zwei Tränen« von 1882. Schon hier taucht die Ostsee, »das endlose Ineinanderspielen von Blau, Gold, Silber«, als todbringendes Element auf. Wie fast dreißig Jahre später in »Wellen«. Ein Lektüreereignis! ||
Das könnte Sie auch interessieren:
Liv Strömquist: Interview zur Graphic Novel »Das Orakel spricht«
Literaturfest München Sommer Edition
»Der eiserne Marquis«: Der Roman von Thomas Willmann
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton