Auch in diesem Jahr haben unsere Autoren ihre Lektüretipps für einen gelungenen Sommer heraus gesucht. Weitere Tipps finden Sie in der aktuellen Ausgabe.
Hass und Gewalt
von Petra Hallmayer
James Baldwins autobiografisch grundierter Debütroman, mit dem dtv eine Reihe von Neuübersetzungen seines Werks startet (am 20.Juli erscheint der nächste Titel: »Beale Street Blues«), führt ins Harlem der dreißiger Jahre, in eine von Rassismus brutalisierte und vergiftete Gesellschaft. Mitreißend und verstörend, in einer von der Melodie der Spirituals und biblischen Bildern durchzogenen Sprache, erzählt er die Geschichten von John, dem Stiefsohn eines bigotten, vom Hass auf die Weißen zerfressenen baptistischen Predigers, und seiner Familie. Es ist eine fremde und unheimlich vertraute Religion, der wir hier begegnen. Mit dem unverbindlichen, schöne Werte spendenden Christentum unserer säkularisierten Gesellschaft, das sich nach Bedarf herbeizitieren lässt, hat sie wenig gemein. Der Gott, zu dem die Schwarzen beten, fordert bedingungslose Unterwerfung. Er ist ein Gott des Zorns und der Hölle und zugleich die letzte Zuflucht und Hoffnung von Menschen, die sich nach Erlösung sehnen aus ihrem von Erniedrigung, Gewalt, Elend und Verbitterung regierten Leben. ||
JAMES BALDWIN:VON DIESER WELT
Neuübersetzung von Miriam Mandelkow
dtv, 2018 | 320 Seiten | 22 Euro
Lustvolles Grauen
von Christiane Pfau
Niemand kann an zwei Orten gleichzeitig sein. In der Welt der subatomaren Dinge jedoch schon. Frank Schätzing malt auch in seinem neuen Buch mit Worten hemmungslos visionäre Räume. Diesmal ist es die Beschreibung von sensationellen Kugelräumen, die über illusionistische Brücken in atemberaubende Paralleluniversen führen. Man fühlt mit der Hauptfigur Luther Opoku das vage Grauen: Dinge sind nicht mehr, was sie sein müssten. Die Geborgenheit im dreidimensionalen Raum ist dahin, Zeit und Raum finden verwirrend multipliziert statt. Auf schamlos barocke Weise erfindet Schätzing die Spiegel-im-Spiegel-Sinnestäuschung neu und verknüpft die (Leser-)Verunsicherung – wer bin ich und wenn ja, wie viele? – mit der auf einmal archaisch scheinenden Forschung an Künstlicher Intelligenz, mit der Welten gerettet oder vernichtet werden können. Insektenschwärme wie aus der Bibel, Silicon-Valley-Beschreibungen wie aus dem Hochglanz magazin, dazu rasante Verfolgungsjagden, anmutige zwischenmenschliche Begegnungen und eine freche Ironie, mit der Schätzing aus dem Vollen der aktuellen Wissenschaft schöpft, machen diese absurde Lektüre zum Vergnügen. Vages, lustvolles Grauen! ||
FRANK SCHÄTZING:DIE TYRANNEI DES SCHMETTERLINGS
Kiepenheuer & Witsch, 2018 | 736 Seiten
26 Euro
Geld zum Atmen
von Gisela Fichtl
»Warum musste eine Frau so teuer bezahlen für die geringste Abweichung von dem von ihr erwarteten Verhalten?« Um diese Frage kreist diese Gesellschaftssatire voll feiner Ironie und intellektuellem Geplänkel. Edith Wharton (1862–1937) skizziert Schein und Sein der New Yorker High Society des ausgehenden 19. Jahrhunderts witzig, voller Schärfe und mit sprachlicher Brillanz. Edith Wharton gilt als eine der bedeutendsten amerikanischen Autorinnen, der nicht nur 1921 der Pulitzerpreis zuerkannt wurde, sie erhielt auch – als erste Frau – die Ehrendoktorwürde der Yale University. Im Zentrum des Romans steht die wunderschöne Lily Bart, eine nicht mehr ganz junge, verarmte Frau der höheren Kreise, die nach dem Tod ihrer Eltern bei einer Verwandten Unterschlupf findet. Der einfachste Ausweg für sie wäre eine Statushochzeit. Doch Lily hindert ihre Klugheit und die uneingestandene Liebe zu einem nicht standesgemäßen Mann, Lawrence Selden, diesen Weg einzuschlagen. Armut gilt als Schande in einem Umfeld, in dem ausschließlich ökonomische Kategorien gelten. »Genauso ist es mit Ihren Reichen«, analysiert Selden im
Gespräch mit Lily, »sie denken vielleicht nicht ans Geld, aber sie atmen es. Setzen Sie sie einmal in ein anders Element, dann sehen Sie, wie sie zappeln und nach Luft schnappen.« ||
EDITH WHARTON: DIE VERBORGENE LEIDENSCHAFT DER LILY BART
Aus dem Amerikanischen von Heddi Feilhauer
ebersbach & simon, 2018 | 464 Seiten | 22 Euro
Egotrip
von Christiane Wechselberger
Erst verlässt die Mutter den Vater wegen eines peruanischen Panflötenspielers. Sie ist Ethnologin, das muss man verstehen. Dann ziehen die Eltern eine Wand in die Wohnung ein. Auf der einen Seite lebt der Junge, Claude, mit dem Vater, auf der anderen die Mutter mit dem kleinen Bruder Broni und dem neuen Mann. Weder Mutter noch Bruder bekommt der Junge zu Gesicht. Dann zieht die Mutterfamilie ganz weg, der Vater lacht sich eine neue Freundin an und verschwindet ebenfalls. Seinem Sohn setzt er eine Gruppe Chinesen in die Wohnung. Als Claude der Oma sagt, dass er unfassbar traurig darüber ist, dass die Mama ihn nicht sehen will, schmeißt die Oma ihn raus. Weil er so unverschämt ist. Es ist ein sehr trauriges Buch, das der an Wien assimilierte Duisburger Dirk Stermann da geschrieben hat. Es ist ein Buch, das wütend macht auf diese selbstgefälligen Selbstverwirklicher. Und doch ist es irre lustig, wie Claude in einer parzivalhaften Tapferkeit durch sein zerstörtes Leben stapft, denn da gibt es ja auch noch den Taxifahrer Dirko und das Mädchen Minako und all die interessanten Hinrichtungsstätten in Wien. ||
DIRK STERMANN: DER JUNGE BEKOMMT DAS GUTE ZULETZT
rororo, 2017 | 224 Seiten | 9,99 Euro
Gebunden 19,95 Euro
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