Angelika Klüssendorf schließt mit ihrem neuen Roman »Jahre später« die Trilogie um die Protagonistin April ab.
»Dann beginnt sie zu weinen, Sturzbäche fließen über ihr klägliches Leben; sie erzählt ihm von ihrer Einsamkeit, am liebsten würde sie sich aufhängen, jeden Tag, ihr Körper würde sich wie ein Stein anfühlen, schwer und kalt. Sie meint, seine unausgesprochenen Fragen zu hören: Dafür haben wir Berlin verlassen? Damit du hier rumheulst? Bis zum Abend wird sie wieder normal sein, das heißt Normalität imitieren können.« April heißt sie, diese Frau, die gerade von Berlin nach Hamburg umgezogen ist, der Liebe wegen, und hier nun lebt, mit ihrem Sohn Julius. Die unausgesprochenen Fragen, das sind die von Sohn Julius, der lieber in Berlin geblieben wäre, dort, wo seine Schulkameraden sind. Nun also Hamburg. Wegen Ludwig. Ludwig, das ist der angesehene Chirurg, den sie eines Abends in einem Kultursalon kennengelernt hat. Thema des Abends »Kunst als Medizin«.
Die Kunst, das Schreiben, das ist das Ihre. Die Medizin, das ist seins. Es mag purer Zufall gewesen sein. Als sie ihm auf eine seiner aufdringlichen Fragen antwortet, dass ihr Lieblingsautor Samuel Beckett sei, da platzt es aus dem raumeinnehmenden Ludwig heraus, »Herr im Himmel, sagt Ludwig, Beckett sei auch sein Liebling, er habe ihn erst kürzlich besucht und könne, wann immer April wolle, ein Treffen für sie arrangieren.« Das in etwa ist der Gestus, mit dem sich Ludwig, der Chirurg, durch die Welt bewegt. April ist angezogen und abgestoßen zugleich, ihrer Faszination wohnt dabei immer auch ein Widerwille inne. Nur wenige Monate nach ihrem Kennenlernen, es ist das Jahr 1989, fällt die Mauer und Beckett stirbt. Sie schicken sich Postkarten. Briefe. Es folgt eine gemeinsame Fahrradtour durch Mecklenburg. Gespräche. Zusammensein. Plötzlich stehen Worte wie »Zusammenziehen« und »Heirat« im Raum. April und Ludwig heiraten, ziehen zusammen, zudem wird April schwanger. Sohn Samuel – der den Vornamen Becketts trägt –, fortan immer nur Sam gerufen, kommt zur Welt. Eigentlich könnte alles gut sein. Eigentlich. Doch Aprils Selbstzweifel sind zu groß. Und Ludwigs Getriebensein. Auch die Energie innerhalb dieses Paares, die sich zwischen ihnen beiden entwickelten Strukturen, das alles, so ist bald schon schmerzlich spürbar, ist nicht für die Ewigkeit. Sie entfremden sich. »Dieses Leben bis zum Tod so weiterführen, das will sie nicht.«
»Jahre später« ist – nach »Das Mädchen« und »April« – der dritte Roman Angelika Klüssendorfs über ihre Protagonistin April, deren Kindheit und Jugend und Erwachsenwerden sie in den beiden vorausgegangenen Büchern nachzeichnete. Nun ist es die Erwachsene April und ihre Liebe, ihre Beziehung, ihre Ehe, ihre Scheidung: Es ist die Anatomie einer intensiven, schönen, manischen, ungesunden, destruktiven Verbindung. Auch in »Jahre später« ist es Klüssendorfs schnörkellose Sprache, die die Tonalität des Erzählten sehr stark bestimmt. Es ist eine nüchterne, klare, kantige Sprache, kalt beinahe, spröde und scharf. Deskriptiv sezierend. Schonungslos. Das mag nicht jedermanns respektive jederfraus Sache sein, doch ist es gerade dieser Sprachduktus, der hier letztlich alles ausmacht: beinahe mehr noch als das, was erzählt wird, ist es das, wie erzählt wird.
Der Reiz, die Protagonistin April als Alter Ego ihrer 1958 in Schleswig-Holstein geborenen und ab 1961 in der ehemaligen DDR aufgewachsenen, 1985 nach Westdeutschland übergesiedelten Autorin Angelika Klüssendorf zu betrachten, ist groß. Ebenso der Umstand, dass die Autorin mit dem 2014 verstorbenen FAZ-Mitherausgeber und Feuilletonisten Frank Schirrmacher verheiratet war, mag bei der Lektüre durchaus assoziativ hineinwirken. Und damit einhergehend die Frage, wie autobiografisch auch »Jahre später« wohl sein mag. Aber natürlich ist diese unstete, labile wie selbstbestimmte, entschiedene April ebenso Fiktion wie dieser prahlerische, stets alles überhöhende genialische Ludwig. »… irgendwann kommt die wahre April wieder zum Vorschein, hässlich und heimatlos. Heimatlos bedeutet, dass sie sich nirgends einrichten darf, sie muss auf dem Sprung sein, wenn die Vergangenheit sie einholt.« ||
ANGELIKA KLÜSSENDORF: JAHRE SPÄTER
Kiepenheuer & Witsch, 2018 | 160 Seiten
17 Euro
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