Wie erzählt man das Leben eines Schriftstellers, der von sich behauptet hat, er sei Eulenspiegels Wege gegangen? Wolfgang Koeppen, 1906 in Greifswald als uneheliches Kind geboren, verstand es, Realität, Biografie und Fiktion zu einem undurchdringlichen Gespinst zu verflechten. In den letzten Jahren konnte durch die Sichtung des Nachlasses einiges von Koeppens »Spiel um die Wahrheit der eigenen Biographie«, wie dies Hans-Ulrich Treichel einmal formulierte, aufgedröselt werden. Das Ergebnis sind erhellende Zurechtrückungen von Autoren wie Jörg Döring. Allen voran der lange Jahre heiß diskutierte Umstand, dass Koeppen nach seiner eruptiv entstandenen Nachkriegstrilogie, »Tauben im Gras« (1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom« (1954), in der er literarisch ambitioniert über die schnell einsetzende Restauration der Adenauer-Zeit schrieb, nie mehr den von ihm angekündigten großen autobiografisch grundierten Roman vorgelegt hat, bedarf einer Revision. Freilich, diesen Roman, von seinem Verleger Siegfried Unseld immer wieder eingefordert, hat der Autor bis zu seinem Tod 1996 in München nie zu Papier gebracht – das autofiktive Bändchen »Jugend« von 1976, dessen verwickelte Editionsgeschichte noch aufgearbeitet werden muss, lässt lediglich ahnen, wohin die Reise gegangen wäre.
Koeppens Schweigen ließ Marcel Reich-Ranicki vom »Fall Koeppen« reden. Doch weiterhin geschrieben hatte er im Grunde stets. Da sind die gewichtigen Reiseberichte u. a. aus Amerika und Frankreich. Und im Nachlass in der Münchner Wohnung in der Widenmayerstraße 45, in der der Schriftsteller von 1967 an wohnte, fanden sich neben 12 000 Briefen Erzählanfänge über Erzählanfänge, insgesamt Tausende von Seiten. Viele davon waren wohl für den ungeschriebenen Roman gedacht. Man sollte sie nicht als missratenes Material begreifen, sondern als Ästhetik des Fragments. Durchaus im Sinne Koeppens, der einmal sagte: »Den Roman aus lauter Anfängen zusammensetzen, ohne jede zeitliche oder logische Ordnung, einfach die Erinnerung an Augenblicke, in der Hoffnung, aus der Anhäufung der Scherben am Ende doch ein Ganzes zu gewinnen. In diesem Fall alles vom Ich aus und dieses Ich als der zentrale Spiegel.« Einen ersten Einblick gewährt der Band »Auf dem Phantasieross. Prosa aus dem Nachlass« von 2000.
Die Gründe, warum Koeppen sein Opus magnum nicht geschrieben hat, ja vielleicht gar nicht schreiben konnte, sind komplex. Sie dürften weniger in einer generellen Schreibhemmung oder in seiner depressiven Grunddisposition liegen, als vielmehr in den Lebensumständen der Jahre 1933 bis 1948 zu finden sein. Jörg Döring hat sie in dem Buch »Ich stellte mich unter, ich machte mich klein« minutiös rekonstruiert und kam zu dem Schluss: »Von seinem Stolz als literarischer Debütant in Zeiten der Diktatur hätte er erzählen müssen; von Einsamkeit im freiwilligen Exil, von seiner Rückkehr nach Nazideutschland, die er nachträglich vielleicht als Verrat an seinen jüdischen Freunden empfand; von seinem Opportunismus als gut bezahlter Filmautor; schließlich von seiner Wiedergutmachungsleistung, dem nicht ganz selbstlosen (Schreib-)Dienst am NS-Opfer.« Mit Letzterem ist das Buch »Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch« (1948/1992) gemeint. Auch dies besitzt (natürlich) seine komplizierte, von Ruth Klüger heftig angefeindete Geschichte. Im Vorwort von 1992 hatte er formuliert: »Ich schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da
wurde es meine Geschichte.«
All dies ändert jedoch nichts daran, dass der vielfach preisgekrönte Koeppen einer der faszinierendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts ist. Koeppen sollte (wieder) gelesen werden, denn letztlich ist es nie zu spät für das, was Jürgen Klein, einst Leiter der Internationalen Wolfgang Koeppen-Gesellschaft, kürzlich gesagt hat: »Es gibt eine Koeppen-Verzauberung. Ich zweifle nicht daran.« Der Sound seiner Prosa – volltönende Sätze, die noch in hämmernder Verknappung von bestechender Sinnlichkeit sind – trägt dazu bei. »Mein Schreibtisch steht an der Isar.« Wolfgang Koeppen ist 1944 von Berlin, wo er als Drehbuchautor arbeitete, nach München/Feldafing gekommen – Drehbuchverträge mit der Bavaria Filmkunst GmbH waren der Anlass. Hier lernte er Marion Ulrich kennen. Sie heiraten 1948 und wohnen bis 1963 in Ulrichs Elternhaus in der Ungererstraße, ehe sie erst in die Löwith-, dann in die Widenmayerstraße ziehen. Die Ehe Koeppens ist ein Kapitel für sich. Marion ist alkoholkrank, chaotische Szenen einer Ehe treiben den Schriftsteller in Fluchtquartiere, nicht selten von Unseld angemietet. Man kann sich günstigere
Schreibumstände vorstellen.
Einerseits. Andererseits: Koeppens Kampf mit dem Schreiben geht auch nach dem Tod seiner Frau 1984 weiter. Was bleibt: Der Nachlass als Werk. Die Modernität Koeppens liegt in dem, was der Dichter Thomas Kling ganz allgemein so beschrieb: »Wenn man nicht seinen Frieden damit schließt, daß die Arbeit Fragment bleiben muß – in unserer Generation sowieso – eigentlich schon das ganze 20. Jahrhundert hindurch (…) – dann hat man nichts verstanden.« ||
Die 16-bändige Werkausgabe erscheint bei Suhrkamp. Der letzte Band »Gespräche und Interviews« (700 Seiten, 42 Euro) kommt im Mai heraus.
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