Ein politischer Roman für die Gegenwart – Uwe Timms »Ikarien«.
Uwe Timm hat im September den Roman »Ikarien« veröffentlicht, der mit wenigen Ausreißern sehr gut bis enthusiastisch von der literarischen Kritik aufgenommen wurde, vom lesenden Publikum sowieso. Ein Roman über einen zeitgeschichtlichen Stoff: Erzählt wird das Leben von Alfred Ploetz, dem Großvater von Timms Frau Dagmar Ploetz, der in jungen Jahren ein sozialistischer Lebensreformer und radikaler Abstinenzler war. In den 1890er Jahren lebte er zeitweilig in einer US-Kommune, bei den Ikariern, im Geiste des Romans »Voyage en Icarie« (1840) – ein utopischer, frühsozialistischer Roman von Etienne Cabet. Ploetz ist heute als Gründer der »Gesellschaft für Rassenhygiene« (1905) bekannt, als einer der Initiatoren der Eugenik, der in der NS-Diktatur eine Chance sah, seine Vorstellungen umzusetzen. Timm erzählt nichts weniger als die Geschichte der deutschen Eugenik mitsamt ihrer Konkretisierung im »Dritten Reich«, ohne Ploetz zu dämonisieren – vielmehr interessiert ihn, wie ein Reformer mitsamt seinen Utopien ins Menschenfeindliche abdriften kann.
Erzählt wird diese Geschichte von einem Zeitzeugen, einem (fiktiven) engen Freund Ploetz’ aus dessen Frühzeit, der einen ganz anderen Weg genommen hat; der Antiquar Wagner ist Pazifist und Sozialist geblieben, wanderte prompt 1933 nach Dachau ins KZ,wurde von Ploetz gerettet und lebte seitdem möglichst unauffällig.Ein junger amerikanischer Offizier, dessen Eltern in die USA ausgewandert waren, Michael Hansen, führt in 15Besuchen Gespräche mit dem Alten, um die Geschichte von Ploetz zu recherchieren, der fünf Jahre vor Kriegsende gestorben war. Hansens Beobachtungen aus dem zerstörten München 1945 sind die zweite Handlungsebene des Romans; er lernt Frauen kennen, wohnt mit einem befreundeten US-Offizier zusammen, der sich mit dem Ärzteprozess beschäftigen muss, sieht die Not der Einheimischen wie die katastrophalen Hinterlassenschaften des vergangenen Regimes in jeder Hinsicht, beobachtet den Systemwechsel.
Timm verhandelt in diesem Roman die linken Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ihre Korrumpierung, die Wagner wie Ploetz auf ihrer USA-Reise nach Ikarien, in eine der sozialistischen Reformgesellschaften, mitbekommen; aus der Utopie ist eine klägliche Gemeinde geworden, die ihre Mitglieder gängelt. Timm war auf den Stoff schon im Zuge der Beschäftigung mit »Morenga« (1978) gestoßen, habe aber keine Form dafür gefunden – nun ist sie da, die Form. In all der positiven Aufnahme des Romans fehlt die Frage, warum er sie gerade jetzt gefunden hat (private Gründe immer ausgenommen) – und warum sind jetzt, vor wie nach »Ikarien«, eine ganze Reihe höchst beachteter Bücher über die prekäre Übergangszeit 1945 erschienen, so ganz ohne runde Jahrestage? Im Roman wird der Gedanke angeboten, es handle sich um einen besonderen Moment: »Es war ein Moment, in dem eine Ordnung in eine andere, noch nicht gesicherte überging – ein Moment der Anarchie.« Es gibt sicher viele Menschen, die sich nach solchen Momenten sehnen, aus den eigenen täglichen Zwängen heraus; auch wenn hier, verglichen mit einem solchen Übergang wie dem 1945er, nur vom Alltags-Kleingeld die Rede ist. Ein politischer Roman für die Gegenwart ist »Ikarien« zweifellos, nicht nur im Blick auf die aktuelle biologische, medizinische, besonders genetische Forschung, die notwendig ist, analog zu Ploetz’ Forschungen, die aber ebenso katastrophal entgleisen könnte.
Vor allem ist Timms Roman ein Nachdenken über Utopie. Das Erstaunlichste ist wohl, dass ausschließlich von gescheiterten Entwürfen erzählt wird – und dennoch klar wird, dass Menschen offenbar Utopien brauchen, allem Skeptizismus (und der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer) zum Trotz. Wir werden »pragmatisch« regiert, ohne utopische Perspektive, und sind zwischendurch vielleicht auch dankbar dafür gewesen, nach dem Zusammenbruch einer weltverbessernden Utopie nach der anderen. Mittlerweile reicht der ewige Pragmatismus offenbar nicht mehr, angesichts der Populistinnen und Populisten und der Möchtegern-Diktatoren, die versuchen, ihre Länder umzubauen; angesichts eines Reichtums, der verwaltet und vermehrt wird, womöglich noch in Richtung Markt-Fundamentalismus – und der nichts gegen die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich tut.
Deshalb muss der alte Zeitzeuge Wagner in Timms Roman eine so ungebrochen positive Figur sein – schließlich wünscht man sich Menschen, die dagegenhalten können. Wir wünschen uns den Blick auf ein besseres Zusammenleben; und die merkwürdige Logik von Timms Roman wird dem gerecht: Das Scheitern von Utopien, die Entwicklung der sozialistischen Utopie Ploetz’ in den Irrsinn der Euthanasie, der Weltuntergang des Kriegsendes – das alles hört sich der junge US-Offizier Michael Hansen an, der neugierig, lebenslustig, belesen, auf seine eigene Zukunft gerichtet ist. Diese Konstellation entlässt die Leserinnen und Leser durchaus hoffnungsfroh, auf Veränderung und Utopie gerichtet aus dem Roman, der keineswegs in erster Linie ein historischer ist: Literatur ist immer noch das Reservoir für Utopien schlechthin, hier wird günstigenfalls – im Moment der Lektüre – vorübergehend so etwas wie »Anderswelt«hergestellt. In allem freundlichen Pessimismus. ||
UWETIMM: IKARIEN
Kiepenheuer & Witsch, 2017
506Seiten | 24 Euro, E-Book 19,99 Euro
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