Verschwörungstheorien feiern Konjunktur. Das Internet und soziale Netzwerke verstärken ihre Sichtbarkeit. Aber stellen sie auch eine Gefahr für unsere Demokratie dar? Darüber sprachen wir mit dem Wissenschaftler Michael Butter, dessen aktuelles Buch »Nichts ist, wie esscheint« Verschwörungstheorien in den Fokus nimmt.
Herr Butter, horcht man hinein in unsere Gesellschaft, vor allem in die sozialen Netzwerke, blühen Verschwörungstheorien an allen Ecken und Enden. Leben wir in einem Zeitalter der Verschwörungstheorien?
Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Wir leben aber sicher in einem Zeitalter, in dem Verschwörungstheorien sichtbarer geworden sind, als das in den Jahrzehnten davor der Fall war. Wenn wir es aber mit dem 18., 19. oder frühen 20. Jahrhundert vergleichen, müssen wir feststellen, dass Verschwörungstheorien lange nicht so verbreitet und akzeptiert sind, wie sie das damals waren.
Wie definieren Sie den Begriff Verschwörungstheorie?
Eine Verschwörungstheorie behauptet, dass es eine Gruppe von im Geheimen operierenden Akteuren gibt – nämlich die Verschwörer –, die beteiligt sind, einen geheimen Plan umzusetzen, der darin besteht, die Kontrolle zu übernehmen, sie zu behalten oder sich zu bereichern. Grundsätzlich kann man von drei Elementen bei Verschwörungstheorien sprechen. Erstens ist laut ihnen alles geplant. Zweitens: Nichts ist, wie es scheint, und drittens: Alles ist miteinander verbunden.
Was sind im Augenblick gängige Verschwörungstheorien?
Es gibt aktuell unterschiedlichste Verschwörungstheorien. Wenn wir Europa betrachten, sehen wir seit drei, vier Jahren Verschwörungstheorien zur sogenannten Flüchtlingskrise. Sie gehen davon aus, dass diese Krise bewusst herbeigeführt wurde und von irgendwem gesteuert wird. Jenach Narrativ können das Amerikaner sein, die Juden oder andere Akteure. Es gibt auch seit einigen Jahren Verschwörungstheorien zur Neuen Weltordnung, die davon ausgehen, dass es im Geheimen operierende Eliten gibt, die eine Ein-Welt-Regierung etablieren wollen. Im Grunde wird jedes signifikante Ereignis der letzten Jahre in den Zusammenhang größerer Verschwörungsnarrative gebracht.
Sie schreiben: »Die Geschichte der Verschwörungstheorien (ist) auch immer eine Geschichte sich wandelnder Öffentlichkeiten«. Von welchen Faktoren hängt das Zirkulieren solcher Theorien ab?
Das hängt vor allem davon ab, welchen Status Verschwörungstheorien genießen und davon, welche medialen Formen überhaupt verfügbar sind. Mit Status meine ich: Wie angesehen und legitimiert sind Verschwörungstheorien? Ein Grund, warum Verschwörungstheorien heute so viel Aufmerksamkeit genießen, aber letztendlich bei Weitem nicht so populär und einflussreich sind, wie sie es vor hundert, zweihundert Jahren gewesen sind, ist, dass Verschwörungstheorien ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt ihren Status als offizielles, legitimes, orthodoxes Wissen verloren haben und immer mehr zu delegitimierten, stigmatisierten, heterodoxem Wissen geworden sind. In dem Moment, in dem Verschwörungstheorien als Problem begriffen werden, finden sie in Teil- und Gegenöffentlichkeiten, in Subkulturen Verbreitung. Dort existierten sie unter dem Radar der Öffentlichkeit, bis das Internet und die sozialen Medien sie sichtbar werden lassen.
Trotz seiner hohen Verbreitung gilt verschwörungstheoretisches »Wissen« im westlichen Kulturkreis als verpönt. War das immer so? Und wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus?
Das war überhaupt nicht immer so. Verschwörungstheorien sind vermutlich ein Produkt des westlichen Kulturkreises, das irgendwo zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung in Europa entstand und erst in die USA und dann in den Rest der Welt exportiert wurde. Lange Zeit war das ein Elitendiskurs. Jeder US-Präsident von George Washington bis Dwight D.Eisenhower war Verschwörungstheoretiker. Donald Trump steht da in einer sehr guten Tradition. Und nicht nur in den USA.Thomas Mann schreibt noch 1918 in den »Betrachtungen eines Unpolitischen«, dass sich Freimaurer und Illuminaten einmal werden rechtfertigen müssen für ihre Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Solche Narrative sind im Westen nach 1945 delegitimiert worden, in anderen Teilen der Welt ist das so nicht geschehen. In großen Teilen Osteuropas und auch in der arabischen Welt sind Verschwörungstheorien immer noch offizielles, legitimes Wissen, das von Medien verbreitet wird und daher entsprechendes Ansehen genießt.
Glauben wir nicht alle manchmal an Verschwörungstheorien, ohne es zu merken?
Ich glaube, dass wir alle manchmal die Tendenz haben, hinter Dingen Absichten zu vermuten, obwohl ihnen in Wirklichkeit keine Intention zugrunde liegt. Das ist, was Verschwörungstheorien definiert: das Zuschreiben von Intentionen, das Verknüpfen, das Verbinden. Vermutlich steht dahinter die anthropologische Konstante, Zusammenhänge herzustellen.
Wie sieht der typische Verschwörungstheoretiker aus? Entspricht er dem Klischee des einsam vor sich hin brütenden Außenseiters, der einen Großteil seiner Zeit vor dem Computer verbringt?
Das ist ganz interessant, weil an diesem Klischee ein bisschen was dran ist. Allerdings gibt es Verschwörungstheoretiker in allen sozialen Schichten, Bildungslevels und bei beiden Geschlechtern. Wenn man die Profile derer betrachtet, die bei YouTube Verschwörungsvideos produzieren, posten oder kommentieren, Pegida-Mahnwachen besuchen oder lautstark Donald Trump unterstützen, lautet die Tendenz: weiße Männer über 40.
Gibt es auch psychopathologische, begünstigende Faktoren, die ein Nährboden sein können für derartige Denkbilder?
Das ist schwierig zu sagen. Lange ging man davon aus, dass Verschwörungstheoretiker, wenn nicht im wörtlichen, dann im übertragenen Sinne, paranoid sind. Wenn wir uns aber anschauen, dass mindestens die Hälfte aller Amerikaner an mindestens eine Verschwörungstheorie glaubt – wie neueste Umfragen zeigen –, dann kommt man mit einer psychopathologischen Erklärung nicht sehr weit.
Als den Verschwörungstheorien zugrunde liegendes Phänomen begreifen Sie eine fragmentierte Gesellschaft. Was heißt das?
In verschiedenen Teilöffentlichkeiten können verschiedene Dinge wahr sein. Das führt dazu, dass Verschwörungstheorien in solchen Teilöffentlichkeiten wieder relegitimiert sind. Sie sind dann wieder offizielles, akzeptiertes Wissen, während sie in anderen Teilöffentlichkeiten verteufelt und verdammt werden. Das führt zu gesellschaftlichen Konflikten.
Sind Verschwörungstheorien eine Gefahr für unsere Gesellschaft?
Das kann man so pauschal nicht sagen, es kommt darauf an, um was für Verschwörungstheorien es sich handelt. Generell würde ich sagen, dass Theorien, die sich gegen Eliten richten, weniger gefährlich sind als solche, die sich gegen Minderheiten richten. Verschwörungstheorien sind aber vor allem dann ein Problem, wenn sie zu politischer Apathie führen.
Was kann man aus aufklärerischer Perspektive tun, um verschwörungstheoretischen Überzeugungen entgegenzuarbeiten?
Das ist ganz schwer, wenn Verschwörungstheorien einmal so richtig Fuß gefasst haben. Es gibt empirische Untersuchungen, die zeigen, dass Verschwörungstheoretiker noch mehr an ihre Narrative glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Daher ist es schwierig, überzeugte Verschwörungstheoretiker für die andere Position zu gewinnen. Wo man ansetzen muss, ist präventiv bei denjenigen, die noch nicht hundertprozentig überzeugt sind, insbesondere bei jungen Menschen. Vor allem brauchen wir meiner Meinung nach eine Medienkompetenz, die dazu befähigt, etwa den Onlineauftritt einer seriösen Zeitung von einem zweifelhaften Blog zu unterscheiden. ||
MICHAEL BUTTER: NICHTS IST, WIE ES SCHEINT. ÜBER VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN
Suhrkamp, 2018 | 271 Seiten | 18 Euro
BUCHPRÄSENTATION MIT MICHAEL BUTTER
Amerikahaus | Barerstr. 19 | 16. Mai | 19 Uhr
Eintritt: 8 / 7 Euro
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