Bei der Langen Brechtnacht bleibt der Bertolt mal im Bücherregal.
Spätestens mit der Langen Brechtnacht am zweiten von zehn Veranstaltungstagen weiß auch der weniger kulturell interessierte Augsburger, dass das Festival in der Stadt ist. Hier steht nicht der Autor und Theatermacher im Mittelpunkt, sondern die Musik, und damit sind nicht Weill und Eisler gemeint. Hier feiert sich aber auch die Stadt selbst mit ungewöhnlichen Spielorten wie dem altehrwürdigen Rathaus, dem denkmalgeschützten Gaswerk oder, wie dieses Jahr, dem Textilmuseum tim.
Andererseits liegt die Faszination natürlich an den eingeladenen Künstlern. Schon unter Albert Ostermaier beim Vorläufer-Festival abc stellten Acts wie Tocotronic oder DJ Hell die Puristen vor die Frage, was das mit Brecht zu tun hat. Die Frage wird zum Glück nur noch selten gestellt, bisweilen aber doch noch von den Musikern selbst thematisiert. So weist der Hamburger Liedermacher Albrecht Schrader im Provino Club augenzwinkernd darauf hin, dass er als einziger Künstler des Abends den Brecht schon im Vornamen trägt, und improvisiert einen etwas anderen Lebenslauf des großen Augsburgers, der sich wunderbar in seine klugen Alltagsbeobachtungen und ironisch-liebevollen Klaviersongs einfügt.
Wenige hundert Meter entfernt wird im Textilmuseum der denkbar größte Gegensatz zelebriert: Die US-Doom-Gospel-Band Algiers schafft das Kunststück, bei den Zuhörern den Mund offen stehen zu lassen, während die Füße schon längst tanzen wollen, ein Zwiespalt, der innerhalb der knappen Stunde auch nicht aufgelöst wird. Hier ist das überstrapazierte Adjektiv »spannend« mal wirklich angebracht, im buchstäblichen, körperlichen Sinne. Ganz anders dagegen die Düsseldorfer Deutschrap-Combo Antilopen Gang, die sich für Songs wie »Beate Zschäpe hört U2« auch schon vor Gericht verteidigen musste, im Konzert aber erstaunlich schnell von sanfter Provokation in Wohlfühl-Wink-Stimmung verfällt. Dem Publikum gefällt’s – und vermutlich auch den Securitys. Zum Ausklang des Abends im Augsburger Textilviertel wird’s dann fast schon sphärisch: Auf der einstigen Kegelbahn der über hundert Jahre alten Gaststätte »Turamichele« verzaubert das Schweizer Frauenduo Eclecta die Zuhörer, bevor sie endlich zum aufgeregten Erfahrungsaustausch an der Theke schreiten dürfen.
Man hat schließlich viel zu erzählen: von den Electro-Ambient-Klängen des Pianisten Martin Kohlstedt aus Thüringen, dem Avantgarde-Jazz des schwedischen Trios Fire! oder dem Klezmer-Folk-Punk der deutsch-amerikanischen Band Daniel Kahn & The Painted Bird. Und nicht zuletzt dem aus München importierten Format »Same Old Song«, das diesmal das Festivalmotto »Egoismus vs. Solidarität« mit dem Abba-Dauerbrenner »The winner takes it all« konfrontiert, interpretiert von acht verschiedenen Musikern in ebenso vielen Stilen.
In dieser Nacht gibt es freilich keinen Gewinner, der alles mitgenommen hat, wie immer bei solchen Veranstaltungen ist es unvermeidbar, sehenswerte Acts zu verpassen. Die Besucher der Langen Brechnacht tragen’s mit Fassung, Begeisterung und Tanzlust.
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