Marius von Mayenburgs »Märtyrer« in der Schauburg hat auch keine Antwort. Aber eine andere Perspektive.
In Europa fragen wir uns derzeit immer wieder hilf- und fassungslos, warum sich junge Menschen religiös so radikalisieren, dass siefür ihren Glauben als Märtyrer in ihren Himmel eingehen wollen. Nicht ohne mit einem Selbstmord-Attentat viele Ungläubige zur Hölle zu schicken. Der Dramatiker Marius von Mayenburg hat dies 2012 ins Christliche gewendet. Sein »Märtyrer« ist ein junger Bibelfundamentalist. Deren gibt es in den USA eine ganze Menge. Der Gymnasiast Benjamin richtet sein ganzes Leben nach dem Alten Testament aus, das er unaufhörlich liest, zitiert und zum Gesetz macht. Womit er sich über alle anderen erhebt, die seine Regeln verletzen: Mutter, Lehrer, Mitschüler. Und alle sind ratlos in ihrer Toleranz.
Die neue Schauburg-Intendantin Andrea Gronemeyer hat diese Inszenierung von Daniel Pfluger aus Mannheim mitgebracht. Eine Mittelwand auf der Drehbühne (Flurin Borg Madsen) ermöglicht übergangslose Szenenwechsel zwischen Schulzimmern, Küchentisch und Freiräumen. Benjamin (Pan Aurel Bucher) provoziert seine liberale, resolute Mutter (Monika-Margret Steger) ebenso wie die engagierte Vertrauenslehrerin Erika Roth (Simone Oswald), bei der er sich zu Darwins Evolutionstheorie als Gorilla maskiert. Der Pfarrer (Mathias Wendel) sagt, »von mir hat er das nicht«, will ihn aber in den Bibelkurs holen. Beim Sportlehrer Markus (Cédric Pintarelli) erreicht Benjamin ein Bikini-Verbot im Schwimmbad. Der Schuldirektor (Uwe Topmann) wiegelt ab und schiebt jedem Gespräch mit Erika ein sexistisches Kompliment hinterher. Benjamin findet im ausgegrenzten, körperbehinderten Georg (David Benito Garcia) einen Jünger, dem er Heilung verspricht.
Dafür soll Georg durch Sabotage die verhasste Lehrerin mit ihrem Motorroller verunglücken lassen. Denn die Kämpferin Erika liest nur noch die Bibel, um Benjamin mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und opfert dafür sogar ihre Beziehung mit Markus.
Auf die schüchternen schwulen Annäherungen Georgs reagiert Benjamin ebenso wieauf das Brüste-Betasten, das ihm das Mädchen Lydia (Helene Schmitt) anbietet, mit Faszination, Verzückung und dann moralischem Ekel. Pan Aurel Bucher spielt diese Ambivalenz wunderbar. Am Ende schlägt er die nun schon fast fanatische Aufklärerin Erika mit der Waffe eines perfiden Missbrauchsvorwurfs: Sie wird zum Opfer. Und kämpft bis zuletzt.Mayenburg überträgt diese Radikalisierung bis zum Mordplan ins christliche Weltbild: Das bringt zum Nachdenken. Alle Glaubenskriege – von den Kreuzzügen bis zum IS – entstehen aus Religionen, die zu fanatischen Ideologien werden. Leider birgt diese bittere Erkenntnis keinen Rat, wie man damit umgehen soll. ||
MÄRTYRER
Schauburg| 25. Jan.| 11 und 19 Uhr
26. Jan.| 11 Uhr | Tickets: 089 23337155
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