Mit »Vom Fliehen und vom Fliegen« liefert Berivan Kaya im Hofspielhaus die feine Studie eines ungelebten Lebens.
Der Abend beginnt mit einer Flut von Ausreden aus dem Off: Nein – leider – ich muss – das würde mich wirklich interessieren – leider – ich muss arbeiten – keine Zeit …, die in einer Gedankenkette enden, die vom schmerzenden Rücken bis zur nicht ausreichenden Rente führt. Und weil man für die 60 Euro, die das Fitnessstudio im Monat kostet, im Alter eine Woche essen kann, lässt man es halt sein, das mit dem Sport.
Das sind so die Gedanken, die im Kopf der namenlosen Frau in »Vom Fliehen und vom Fliegen« kreisen. Berivan Kaya und Sebastian A.M. Brummer haben sich das Gerüst von Ingeborg Bachmanns Hörspiel »Ein Geschäft mit Träumen« als Grundlage für ihre Geschichte eines letztlich ungelebten Lebens geliehen. Tasse, Thermosflasche, Stiftebecher, Ablage, Headset, das sind die Koordinaten des immer gleichen stupiden Tagesablaufs. Sich aus den weißen Laken winden, Zähne putzen, gurgeln, Tee machen, in die Thermoskanne gießen, einpacken, runter vom Bühnenpodest, abschließen, rauf aufs Bühnenpodest, Tür öffnen, Mantel aufhängen, Tasse und Thermoskanne auf dem Tisch platzieren, Stiftebecher und Ablage zurechtrücken, Headset aufsetzten, Kunden abfertigen. Sie sprechen mit Nr. 774903. Wie ein Klon sitzt Berivan Kaya vor der unendlichen Reihe Alter Egos auf der Leinwand hinter ihr, mechanisch vollzieht sie die immer wiederkehrenden Abläufe mit zierlich pantomimischen Gesten und einer somnambulen Ausstrahlung.
Und dann ist der Schlüssel weg. Hab ich ihn im Badezimmerschrank gelassen? Auf der Suche danach landet die Frau im Laden der schmucklosen Kisten bei einem obskuren Verkäufer. Der ist in Gestalt der Sängerin Fatima Dramé eine Mischung aus Mephisto und zähnefletschendem Voodoopriester mit schlechten Manieren, serviert der Kundin einen unheimlichen Drink und verkauft ihr für Zeit, die sie nicht hat, einen Allerweltstraum. Nun ist sie angefixt. Ein menschenloser Schatten hängt sich an sie, Carolyn Breuer, die auf dem Saxofon Jazzstandards spielt, wenn sie nicht mit zischender Stimme zum Traumraub anstiftet. Doch die Träume werden zu viel, die Frau will wieder ins Büro, will wieder arbeiten, wieder leben, ihr Leben. Berivan Kaya liefert die feine Studie eines Menschen, der die Sicherheit der Routine den unwägbaren Träumen vorzieht. Allerdings wird die Aufführung streckenweise von der Fülle der bedeutungsschwangeren Bilder erschlagen, die Regisseur Brummer der Inszenierung aufbürdet.
Vom Fliehen und vom Fliegen
Hofspielhaus | Falkenturmstr. 8 | 25., 27. Januar, 15. Februar | 20 Uhr | 28. Januar | 18 Uhr | Tickets: 089 24209333
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