Chuma Sopotela und Ahmed Tobasi sprechen über Sex , Silvia Calderoni setzt sich mit Geschlechterzuschreibungen auseinander.
Zu Beginn zirpt es wie über einer Sommerblumenwiese. Dazu wogt in der Mitte der Bühne des HochX ein Bettbezug, bis er schließlich mit gespannten Zipfeln liegen bleibt. Zwei stecken hier buchstäblich in einer Decke, dahinter, projiziert auf einem Screen, verschränken sich zwei verschiedenfarbige Hände ineinander, als gehörten sie zu einer Person. Doch wie der Titel »Let’s talk about sex: the beginning of war« schon vermuten lässt, bleibt es nicht bei der zarten Harmonie des Anfangs. Wenn sich die beiden – es sind die südafrikanische Performerin Chuma Sopotela aus Kapstadt und Ahmed Tobasi vom palästinensischen Freedom Theatre – umständlich angezogen haben, ergibt eine schüchterne Annäherungsgeste die nächste heftigere Abwehrbewegung, und schon knallt Sopotela ihren Mitspieler mit Wucht auf die Bretter, der rächt sich in der nächsten Runde, so geht es weiter, bis Tobasi plötzlich unterbricht: »Bitte keine Fotos machen«, sagt er zu einer Zuschauerin, »hier in Deutschland denken sie, ich bin Künstler, in Israel sperren sie mich wieder ein.« Schwer zu erkennen, ob die Zuschauerin tatsächlich eine Kamera gezückt hatte, Tobasi jedoch schloss sich nach seiner Kindheit im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin tatsächlich militanten Freiheitskämpfern an und kam mit 17 für drei Jahre ins Gefängnis, kein idealer Ort, um erste sexuelle Erfahrungen zu sammeln, von denen er trotzdem erstaunlich amüsant erzählt. Sopotela räumt ihrerseits vergnügt mit dem Vorurteil auf, dass alle schwarzen Männer ein großes Ding haben, schleckt genüsslich Sahne von einem rosa Dildo und lässt auch sonst mit einem entwaffnend dreckigen Lachen nichts anbrennen. Irgendwann wird es dann doch noch unbequem, wenn Sopotela auf die Klassenfrage zu sprechen kommt, von den einen »born to be slaves« und den anderen, die immer Zeit haben zu genießen. Dazu tanzt sie barbusig in einem Josefine-Baker-Bananenröckchen und fragt anschließend ins Publikum: »Does it hurt?« Tobasi hat sich mittlerweile in einen Astronautenanzug gezwängt und fantasiert über kosmische Masturbation. Zum Schluss hat man zwar nicht das Gefühl, etwas essenziell Neues erfahren zu haben, aber die Stimmung ist gut, und es gibt Sekt mit Erdbeeren für alle.
Wie eindeutig muss Geschlecht sein?
Mehr über Männlich und Weiblich und das weite unbekannte Feld dazwischen weiß die italienische Tänzerin und Schauspielerin Silvia Calderoni bei ihrem Gastspiel im Carl-Orff-Saal zu erzählen. Seit 2005 arbeitet sie mit dem Künstlerkollektiv Motus aus Rimini zusammen, mit dem sie nun auch ihr erstes Bühnensolo entwickelt hat. Dabei bezieht sich der Titel »MDLSX« nicht nur auf den gleichlautenden Roman »Middlesex« von Jeffrey Eugenides, eine Familiensage über griechische Einwanderer in den USA, in dem die Hauptfigur Cal(liope) nach einem Unfall das Geschlecht wechselt, sondern vor allem auf Calderonis eigenes Leben.
Auf einem runden Screen sieht man sie anfangs als Kind Karaoke singen mit einer klaren hellen Stimme, die sie annähernd noch heute hat. Doch das schmächtige Wesen, das dann auf die Bühne stürmt, sich mit Mengen von Haarspray eine Igelfrisur ins kurze Blondhaar sprüht und erst einmal einen wilden Pas de deux Auge in Auge mit der Kamera tanzt, ist etwas anderes geworden, das sich nicht mit einem Wort beschreiben lässt, ebenso wenig wie die Gefühle und Gedanken, die sie zu Beginn der Pubertät überschwemmen, z.B. »das Glück, das mit einer Katastrophe einhergeht«, dass »Schönheit immer etwas Monströses an sich hat« oder schlicht ein Mädchen zu sein, das immer für einen Jungen gehalten wird.
Mit eindringlicher Offenheit erzählt Calderoni, wie es ist, als Mädchen darauf zu warten, eine Frau zu werden, und nichts passiert, oder vielmehr es passiert etwas ganz anderes, was sie sich selbst zunächst nicht erklären kann. In der Folge mischt sich Calderonis autobiografische Geschichte mit der von Eugenides’ Heldin. War ihr Geschlecht nach der Geburt als weiblich festgelegt worden, erfährt sie erst später von ihrem genetischen Mannsein und stößt bei der Recherche in der Bibliothek unter dem verheißungsvollen Begriff »Hermaphrodit« prompt auf die verstörenden Verweise »Eunuch« und »Monster«. Nach einerpanischen Flucht vor fremden Zuschreibungen und vor dem unbekannten Selbst, die sie schließlich in eine obskure Transgender-Unterwasser-Peepshow voller Drogen und seltsamer Freundschaften verschlägt, fasst sie langsam Mut, eine eigene Identität ohne die üblichen Hilfslinien zu begründen. Auf der Bühne probiert Calderoni kess verschiedene Schamhaarperücken an, tanzt im Video als androgyner Cowboy auf wackligen Betten und schließt mit sich selbst, während sie endlich glücklich in einem goldenen Fischschwanz auf dem Boden lümmelt, einen kontrasexuellen Vertrag, indem sie für immer auf eindeutige Festlegung ihres Geschlechts verzichtet.
Auch in seiner Form zwischen glamouröser Performance, Traum(a)theater und psychedelischem Clubabend mit einer exquisiten Musikauswahl aus Indierock der 1980er Jahre entzieht sich »MDLSX« jeglicher Kategorisierung: ein Fest der Freiheit, berührend und berauschend schön.
Nächste Spieltermine:
Motus: MDLSX | Donnerstag, 9. November | 21 Uhr | Gasteig: Carl-Orff-Saal
Let’s talk about sex: the beginning of war | Donnerstag, 9. November | 21 Uhr | HochX
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