Mit »Tiefer Schweb« umschifft der Schweizer Regiegroßmeister Christoph Marthaler die Untiefen der Flüchtlingsproblematik.

Der Ausschuss (Ensemble) in der Klausurdruckkammer 55b| ©Thomas Aurin

15 Jahre hat München auf Christoph Marthaler warten müssen. Dafür stehen die Kammerspiele jetzt Kopf, kaum dass das letzte »Bloppblopp« dem letzten Schauspielermund entweicht. Szenenapplaus gab es zuvor schon – etwa für Ueli Jäggi, der mit grabestiefer Stimme Procol Harum und Leonard Cohen wiederauferstehen lässt – und als die ganze Meute mit grotesk überzeichneten Trachten (Kostüme: Sara Kittelmann) grienend an die Rampe tritt.

Marthaler nimmt in altbekannter Manier das Volkstümliche aufs Korn, bedient aber auch die nostalgische Sehnsucht des Publikums nach Wiedererkennbarkeit. Wenn man Jürg Kienberger am Klavier sitzen sieht oder die Tiroler Zusammenhalt-Hymne »Fein sein …« wieder hört, macht das zuverlässig glücklich. Da ist es dann nicht mehr so wichtig, ob es hier wirklich um graue Beamte geht, die in der »Klausurdruckkammer 55b« 243 Meter unter dem Bodensee eine ganze Latte von Druckzuständen zu bewältigen haben, oder schlicht um die Feier eines theatralen Grundrezeptes, das so richtig schief gar nicht gehen kann.

Der Titel des Abends – »Tiefer Schweb« – benennt die tiefste Stelle des Binnenmeers zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Und dass der Raum, in dem dort weniger über die Zukunft der schwimmenden Flüchtlingsdörfer beratschlagt als mit Hilfe von Kafka- und Heidegger-Zitaten gemarthalert wird, was das Zeug hält, nicht von Anna Viebrock stammt, fällt kaum auf. Denn auch Duri Bischoff kann prima holzgetäfelte, trostlose Unorte bauen. Der hier beherbergt einen riesigen grünen Kachelofen, aus dessen Deckel ein Froschmann Kekse bringt, in dem man aber auch besagte Trachten verbrennen kann. Alle acht Akteure – vier aus der Marthaler-Familie und vier vom Haus – gehen darüber ein und aus. Es werden mit hängenden Köpfen Geräusche fabriziert und Entscheidungen vermieden; Annette Paulmann knattert die Ausschusskompetenzen von A bis Z herunter und jault sich durch »Die Fischerin vom Bodensee«, wozu ein aufgekratzter Walter Hess den »alten Hecht« gibt. Jäggi referiert die Namen des Sees in allen Sprachen und »Geh aus, mein Herz, und suche Freud« scheint unendlich viele Strophen zu haben.

Aber der Meister der gedehnten Zeit führt auch Hassan Akkouch als »Zauberflöten«-Tamino ein, der die Rechtmäßigkeit seiner »Einbayerung« mit der lückenlosen Wiedergabe der Inhaltsstoffe der Weißwurscht bestätigen muss. Und wenn der Druck steigt, schwebt man mit aufgeblasenen Backen wie ein Schwarm untoter Fische durch den Raum. Das ist nett, teilweise auch ein bisschen böse, etwa wenn schön doppeldeutig über »Ausschussmenschen« philosophiert wird. Und als man sich nach etwa einer Stunde darauf einrichtet, dass nett und ein bisschen böse reichen muss, gerät die Chose doch noch in Fahrt: Die Damen finden kein entsprechendes Klo, die singenden Herren heben sich Urinale vor die Gesichter. Und einzelne von ihnen geraten am E-Piano oder mit Hammer und Stacheldraht derart in Panik oder Ekstase, dass einem dunkel dräut: Wer hier vor wem beschützt werden muss, ist noch nicht raus! ||

TIEFER SCHWEB
Kammer 1| 9., 13., 26., 27. Juli| 19.30 Uhr | Tickets: 089 23396600

 


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