David von Westphalens »Fucking Disabled« räumt mit einem unnötigen Tabu auf.
Von der Decke hängt, fast nackt und gefangen in einer komplizierten Knotenkonstruktion, ein athletischer Mann. Beine und Oberkörper sind gefesselt, nur ein Arm ist frei. Auf Hüfthöhe dreht er sich langsam um die eigene Achse. Bewegt wird er von einer zierlichen Frau mit blonder Mähne im Rollstuhl, die ihn umkreist, dabei sanft mit einer Hand seine Haare greift oder auch mal lustvoll in eine Pobacke beißt. Beide sind hochaufeinander konzentriertund gleichzeitig damit beschäftigt, welche Wirkung dieSzene nach außen erzeugt. Der Mann ist der polnische Tänzer Paweł Duduś, die Frau die Münchner Sängerin Lucy Wilke, bekannt von ihren Auftritten mit dem Duo blind & lame, das sie mit ihrer erblindeten Mutter Kika gegründet hat.
Im Pathos Atelier proben sie »Fucking Disabled«, eine Performance über Behinderung und Sex – in dieser Kombination ein hartnäckiges Tabu – oder einfach über Lust, Schönheit und Begegnung jenseits der Norm. Die Idee dazu kam Regisseur David von Westphalen, nachdem er 2016 im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Was geht? Kunst und Inklusion« im Volkstheater die Revue »Geht’s noch?! – Der große Krampf« mit vielen behinderten und nicht behinderten Mitwirkenden arrangiert hatte. Damals sang Wilke,die mit einer glasklaren Stimme, großen graugrünen Augen und einer spinalen Muskelatrophie geboren wurde, unter anderem Lieder von Marilyn Monroe. »Da ging es auch schon ein bisschen um Sex, aber nur so andeutungsweise«, erzählt von Westphalen. »Damals hat sich mir das Thema aufgedrängt, aber ich habe auch gemerkt, dass es ein Tabu ist. Irgendwann kam mir dieser Titel, und ein paar Monate später hab ich mich dann getraut, bei Lucy anzufragen.«
Auf Wilkes Empfehlung kamen noch der durch eine spastische Lähmung in der Artikulation beeinträchtigte Performer Danijel Sesar dazu, der ebenfalls gleich Feuer und Flamme war, sowie Deva Bhusha, Tantralehrerin, Tänzerin und professionelle Sexualbegleiterin, insbesondere für Menschen mit Behinderung. »Wir wollten, dass es ein ›mixed-abled‹-Ensemble wird«, erklärt Wilke. »Es soll nicht so aussehen, als wären wir eine andere Spezies, die besser unter sich bleibt.«
Dass subjektives Körperempfinden naturgemäß nur konkret und nie »normal« sein kann, ist eine Erkenntnis, die sich beim Umgang miteinander ohnehin rasch einstellt. Reale Einschränkungen gibt es dagegen im Alltag durch die jeweils gegebene physische Abhängigkeit und den da raus resultierenden Mangel an Privatsphäre. In konfessionell geführten Wohnheimen ist Sex nach wie vor nicht vorgesehen, berichtet Deva Bhusha aus ihrer beruflichen Praxis, und ein Großteil des Leitungs- und Pflegepersonals scheint noch immer davon auszugehen, dass behinderte Menschen kein Sexleben haben (sollten). Auf der Bühne dagegen wirkt diese Vorstellung nachgerade absurd. Um Bewegungsabläufe zu entwickeln und zu lernen, mit den praktischen Schwierigkeiten dabei umzugehen, hat sich das Team während der Proben viel Zeit genommen. So sind ausder Improvisation heraus Szenen und Rollenspiele entstanden, in denen mal der eine, mal die andere bewegt oder bewegt wird. Zwischen den Polen von selbst genügsamem Bei-sich-Sein und extrovertiertem Gefallenwollen entwickelt von Westphalen mit seinen Akteuren ein galantes tänzerisches Spiel, das die Zuschauer einlädt, stereotype Denkmuster hinter sich und eigene Wahrnehmung und Gefühle zuzulassen. »In dem Moment«, verspricht er »löst sich der ganze Krampf einfach auf.« ||
FUCKING DISABLED
PATHOS Ateliers| Dachauer Str. 112 | 19.–21. Juni
20.30 Uhr | Tickets: 0152 05435609, ticket@pathosmuenchen.de
Das könnte Sie auch interessieren:
Theaterspiele Glyptothek 2023: Prometheus / Iphigenie
Theater in München: Oktober 2021
Selfie & Ich: Das neue Theaterprojekt von Christiane Mudra
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton