Literarische Fundstücke jenseits gängiger Muster: die Literaturzeitschrift »Krachkultur«.
Wissen Sie noch, die Wundertüten am Kiosk? Diese bunten, verheißungsvoll ausgebeulten Umschläge, die nichts, aber auch gar nichts darüber verraten, ob sie einen Dinosaurier, das Segelflugzeug aus Styropor, den FeenHaarreif oder einen Glitzerflummi enthalten. Das war ja das Spannende – nach Sicht kaufen kann schließlich jeder. Wer Bücher gewöhnlich nach Empfehlung, Klappentext, Kritik oder Verlagswerbung auswählt, also steuert, worauf er oder sie sich literarisch einlässt, den beschleicht, die neue »Krachkultur« in Händen, ein ganz ähnliches Gefühl wie damals vorm nasenhohen Kioskfenster.
Sicher ist bei der Münchner Literaturzeitschrift nur das Thema jeder Ausgabe. Der Rest bleibt ein Wagnis – mal lohnend, mal irritierend. Wenn ein Beitrag der frisch gedruckten Nummer 18 also als Teenagergeschichte über einen wenig ehrgeizigen Außenseiter im Ruderteam beginnt, ist es gut möglich, dass sie als handfester Horror endet. »Apex« heißt die Kurzgeschichte von Jochen Veit, Jahrgang 1992, in der ein fast allwissender und ungewohnt involvierter Erzähler schildert, wie sich das Kräfteverhältnis Mensch versus Natur erst unmerklich und dann rasant verschiebt. Nicht ohne Sympathie beobachtet er den jungen Einzelkämpfer. Der scheint im Gegensatz zu seinen megasportlichen Teamkollegen im Zweierkanu zu verstehen, was es heißt, sich dem Element Wasser auszusetzen. Subtil lässt Veit binnen weniger Seiten Sympathien für den Jugendlichen entstehen, nur um dann vorzuführen, dass Wesen wie er in diesem schrägen Endkampf längst keine Rolle mehr spielen.
Alles zwischen banal, poetisch und unverständlich
Solche Frühtexte, nicht ganz ausgereift, aber in ihrer Eigenwilligkeit vielversprechend, stehen in »Krachkultur« neben Hochkarätern wie der deutschsprachigen Erstveröffentlichung eines Essay-Entwurfs des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson und neben Lyrik von Altmeister Martin Mosebach. »Tunnel-Gedichte« nennt der seine kurze Serie. Mal gibt darin ein Hund in der U-Bahn den Anstoß, über Grenzen der tierischen und menschlichen Wahrnehmung zu philosophieren. Mal geht es um den realen, notwendigen Versorgungs- und Fluchttunnel aus dem belagerten Sarajewo.Zu den Spezialitäten der »Krachkultur« zählt auch das Aufspüren literarischer Fundstücke. Als Coup gefeiert wurde erst 2014 das bis dato verschollene Gedicht »A Song to the Glorious Lonely« von Charles Bukowski, das in der Ausgabe zum Thema Rausch erstveröffentlicht wurde. Ein einsamer Trinker, der auf den Tresen stiert, entdeckt hier irgendwann »interessantere Dinge / in der Maserung des Holzes / als in den Menschen«. Auch die Natur-Nummer hat so ein Fundstück zu bieten: Aufzeichnungen aus einem verschollen geglaubten Notizbuch von Heimito von Doderer (»Die Strudelhofstiege«). Der Schriftsteller hatte sich selbst als Training auferlegt, täglich kurze Momentaufnahmen und Eindrücke zunotieren, er nannte das »Extrem-Übungen«.
Manche der für »Krachkultur« thematisch ausgewählten Naturskizzen sind banal, manche poetisch, manche unverständlich. Alle aber erzählen davon, dass Literatur harte Arbeit ist, und die Vorstellung vom Schriftsteller als genialischem Geist wohl Wunschdenken entspringt. Angenehm frei von Standesdünkel definiert »Krachkultur« seit über zwei Jahrzehnten Literatur immer wieder neu. Rotziger Trash steht neben hochnäsiger Lyrik, Tagebuch- neben Romanauszug. Und es darf auch ganz grundsätzlich über Literatur, über Kunst und deren Implikationen nachgedacht werden. Die vorletzte Ausgabe widmete sich mit großer Begeisterung dem Genre Fantastik, dem bis heute oft unbesehen der Literaturstatus abgesprochen wird. Dietmar Dath verteidigt in diesem Band mit seinem »Brief an eine alte Feindin« nicht nur die fantastische Literatur als notwendiges Denken dessen, was sein könnte. Es ist auch eine angenehm direkte Abrechnung mit einer allegorischen Figur, »die für den Kunstgeschmack und den Weltzugang des badenwürttembergischen Kleinbürgerpacks steht«, für einen Kunstbegriff und einen Blick auf die Welt, der sich für realistisch hält, eigentlich aber nur erschreckend verengt ist.
»Krachkultur« ist da anders, schon immer, auch wenn sich heute niemand mehr erinnert, worum es in der ersten Ausgabe ging. Tatsache ist, dass sie im Jahr 1993 von zwei übermütigen, dem Wundertütenalter gerade entwachsenen, »generaloppositionell gesinnten« Schülern namens Martin Brinkmann und Fabian Reimann zusammengebastelt wurde. Mittlerweile teilt sich Brinkmann die Herausgeberschaft mit Alexander Behrmann. Unverändert geblieben sind die Lust am Experiment und die jugendliche Neugier der selbstausbeuterischen kleinen Redaktion. ||
MARTIN BRINKMANN, ALEXANDER BEHRMANN (HG.): KRACHKULTUR
Ausgabe 18 | 2017 | 192 Seiten | 14 Euro | Website
KRACHKULTUR–EIN ABEND
Mit Martin Brinkmann u. Alexander Behrmann
Das Lihotzky| Fritz-Winter-Str. 10 | 20. Juni, 20 Uhr
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