Christopher Wheeldons aufwendiger Entertainment-Bilderbogen um Alice und Co wurde als zweite Spielzeitpremiere gefeiert. Und wie geht es weiter mit dem Staatsballett?
Ballettfestwoche geschafft – und alles gut? Hat München sich mit seinem neuen Staatsballett-Chef Igor Zelensky nun endgültig angefreundet? Bei dessen Amtsantritt letzten Herbst ging ja ein mittleres Beben durch die Zuschauerschaft: die zahlreichen nicht verlängerten Tänzer-Verträge, der vermutete stilistische Retro-Geschmack des »Neuen«. Und dann auch noch UdSSR-Altklassik! Aber Überraschung: Das zunächst als suspekt parteiideologisch beargwöhnte Sklaven-Opus »Spartacus« (1968) der russischen Ballett-Legende Juri Grigorowitsch wurde letztlich als apartes Patina-Stück euphorisch bejubelt. Und ebenso auch »Alice im Wunderland«, jenes berühmte Lewis Carroll-Märchen, das Christopher Wheeldon 2011 fürs Londoner Royal Ballet vertanzte und das hier als Deutschlandpremiere im April die Ballettfestwoche eröffnete.
Diese, Wheeldon zufolge, »Tanzgeschichte für die ganze Familie« macht sich ausnehmend gut in Bayerns Staatsoperntempel – und das, obwohl in Libretto (Nicholas Wright), in pop-bunter Ausstattung (Bob Crowley) und zu Show-nahem Soundtrack (Joby Talbot) so ganz ohne Rücksicht auf hehre deutsche E-und-U-Unterscheidung! Auch Vorbehalte wie »zu traditionell, zu flach erzählt, mit drei Stunden viel zu lang« wurden bald weggetanzt. Zugegeben, das Ballett kommt ein wenig behäbig in die Gänge. Schon weil Wheeldon leicht aktualisierend eine Romanze einfügt: Alice Liddell ist hier nicht die Zehnjährige, für die Autor Lewis Carroll 1865 die Geschichte schrieb, sondern ein in den Gärtnerssohn Jack verliebter Teenager. Herausgefallen ist damit der Pubertäts-Aspekt: die im Heranwachsen ihren Selbststand suchende Alice. Man tröstet sich mit Maria Shirinkinas anmutigneugieriger Wunderland-Erkunderin und dem im Gestus natürlichen Vladmir Shklyarov als »beautiful young lovers«.
Bühnenmagie
Angelehnt an die klassische »Nussknacker«-Dramaturgie geht es nach einer quirligen Teaparty der Liddells ins Wunderland der Träume. Ab jetzt werden die spielerisch-grafischen Projektionen von John Driscoll und Gemma Carrington zu bildnerischen Co-Akteuren. Man saust mit Alice – so das fast körperliche eigene Empfinden – durch den projizierten Kaninchenschacht, sieht sie illusionistisch zum Winzling schrumpfen und durch Minitüren krabbeln; trifft Jack und die Liddells wieder, nun als Kartenspielfiguren, und den Autor als das weiße Kaninchen. Und eben auch all die anderen Carroll-Schöpfungen: die Grinsekatze, den Märzhasen, den verrückten steppenden Hutmacher, tanzende Blumengärten und die Raupe mit orientalisch sich wiegendem Gefolge. Ein revuehafter Bilderbogen – eine Art Ballettical, in das der Monty-Python-Geist gefahren ist.
Und wenn Wheeldon, an sein Medium gebunden, nicht den ausgeklügelten Sprach-Nonsens von Carroll einbringen konnte, dann zumindest dessen düster metaphorische Reaktion auf die viktorianische Verklemmtheit: In ihrem »Sweet Home« schwingen Matej Urban als Herzogin und Mia Rudic als Köchin herrlich blutdurstig das Schlachterbeil. Séverine Ferrolier, superb als tyrannische »Kopf ab«-Herzkönigin, verkörpert im parodierten »Rosen-Adagio« die Eitelkeit despotischer Herrschaft, im Croquetspiel deren Dekadenz: lebende Flamingos sind die Schläger und die Bälle sind Igel, herzig dargestellt von den stacheligen Ballettakademie-Zwergerln.
Wheeldons Schrittmaterial ist insgesamt eher einfach. Kompliziert sind die draufgepackten kleinen gemein rapiden Gesten und Kopfbewegungen. Mag Zelensky mit dieser in Ausstattung und Projektionstechnik aufwendigen Übernahme sein Budget auch arg beansprucht haben, für seine Tänzer war’s ein Gewinn. Topfit sind sie in Wheeldons gestischen Pikanterien und präzise in den zahlreichen rasend schnellen Auftritten. Mit neuem technischen Hochglanz hatte gleich im Herbst 2016 Zelenkys erste Repertoire-Vorstellungen überzeugt. Es fehlte einem jedoch bis jetzt: dramatische Darstellungskraft, packende Rollengestaltung. Zelenskys Solisten, technisch korrekt bis exzellent, wirkten durchwegs brav-blass (Natalia Osipova vom Royal Ballet, eine der ganz raren großen Ballerinen, flattert ja nur als seltener Gast nach München). Und da hat dieses lockere Wheeldon-Entertainment eine emotionale Befreiung ausgelöst: Solisten wie Matej Urban und Javier Amo – als weißes Kaninchen und als Autor Lewis Carroll –, beide eher vertraut als »Tänzer-Tänzer«, sind zu hinreißenden Komödianten gereift.
Und gerade schauspielerische Qualitäten sind dringend erforderlich im an Handlungsballetten reichen Münchner Repertoire – das Zelensky ja offensichtlich weiterpflegt. Erzählerische Werke liegen ganz auf seiner Linie. Darum wechselte er nach fünf Jahren im abstrakt tanzenden New York City Ballet ans Londoner Royal Ballet. »Manon« der R.-B.-Legende Kenneth MacMillan ist eines seiner Lieblingsballette, das er auch schon hier tanzte. Und MacMillans »Mayerling« von 1978, die mysteriöse Selbstmordgeschichte des österreichischen Thronfolgers Rudolf, sah man in dieser Ballettfestwoche vom Moskauer Stanislawsky Ballett. Aber trotz MacMillans hochdramatischen Pas de deux, trotz Weltstar Sergei Polunin – seelisch ermüdet, aber eisern durchtanzend –, erwies sich dieses Gastspiel als eine nicht nur optisch angestaubte Enttäuschung. (Jürgen Rose, so hört man, soll das Stück für Stuttgart demnächst ganz neu ausstatten.) In der Tanzroutine des Stanislawsky-Ensembles meint man eine in der Stimmung Russlandsbegründete Beengung, eine Resignation zu spüren. Vernünftig, auch schon wegen der Konzentration auf München, dass Zelensky dieses Moskauer Ensemble, das er 2011 übernahm und ursprünglich neben dem Staatsballett weiterleiten wollte, 2016 aufgab.
Ausleihen
Noch aber rekrutiert er von dort weiterhin neue Tänzer, zuletzt Alexander Omelchenko, gesichtet in »Alice« als Gärtner. »Anna Karenina« (2014) von Zürichs Ballettchef Christian Spuck, die nächste Münchner Premiere diesen November, hatte Zelensky schon letztes Jahr fürs Stanislawsky Ballett erworben. Zu vermuten ist, dass er die Kostüme von dort ausleiht. Ksenia Rhyshkova, bereits in Moskau die Karenina, wird folglich hier die erste Besetzung sein.Die zweite Premiere, zur Festwoche 2018, bestreitet dann Wayne McGregor, der berühmte zeitgenössischer Hauschoreograf des Royal Ballet, mit »Borderlands« (2013) und »Kairos« (2014), ergänzt durch eine Kreation. Darauf ist man sehr gespannt. Hofft jedoch stark, dass das Staatsballett auf Dauer keine Wiederverwertungsstätte wird von Werken aus dem Fundus des Stanislawsky und des Royal Ballet – dass Zelensky bald sein eigenes Profil entwickelt.
Daran arbeitet gerade das ab Herbst aktive Bayerische Jugendballett, hervorgegangen aus dem Staatsballett II/Junior Company. Die wollte Zelensky auflösen und die 16 Tänzer ins große Ensemble integrieren – was sein Vorgänger Ivan Lika mit kämpferischem Einsatz verhinderte. Nicht nur, dass
diese Jugendtruppe unter seiner Direktion international tourt. Als Leiter der Heinz-Bosl-Stiftung bemüht er sich auch um junge choreografische Talente, wie seit 2015 den in der Schweiz lebenden Kanadier Kinsun Chan, der für die jüngste Bosl-Ballettmatinee das hochdynamische und zugleich fantasievoll bildnerische »Sturm« kreierte. Entdecken und fördern statt nur einkaufen, das könnte vielleicht auch Ballettchef Igor Zelensky inspirieren. ||
ALICE IM WUNDERLAND
Nationaltheater |19./29. Mai, 16. Juni, 3. Juli
19.30 Uhr | Tickets: 089 218519-20/-40/-60/-70
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