Minoritäten und Hybride, Differenz und Vielfalt werden beim Festival Dance künstlerisch reflektiert. Choreografen überblenden und kreuzen Kulturen – in politischen Fallstudien oder sinnlich dekonstruierten Schleiertänzen.
Kontinuität kann Überraschungen bergen. Jedenfalls in der Kunst – und bei Festivals ist neben hoher Qualität ein gewisser Grad an Erstaunlichem durchaus erwünscht. Am Eröffnungstag der städtischen Tanzbiennale DANCE präsentiert sich Richard Siegal, und der ist immer für eine Überraschung gut. Seit 2010 ist er hier im Programm vertreten. Damals inszenierte er mit »©oPirates« eine intermediale und interaktive GemeinschaftsShow. 2012 brachte er »Black Swan« heraus, ein radikales Solo im Dunkeln mit gesungenem, poetischem Text-Overload. 2015 war sein rasanter und vertrackter Dreier-Abend am Bayerischen Staatsballet zu sehen. Siegal bringt jetzt in seinem dreiteiligen Abend zwei Uraufführungen – und steigert so den Innovationseffekt der Festival-Programmierung, die sieben Premieren und sechs deutsche Erstaufführungen unter den 20 gezeigten Produktionen verbuchen kann.
Die eigentliche Überraschung diesmal: Siegals Ensemble, das der international hoch geschätzte Choreograf, Münchner Tanzpreisträger und optionsgeförderte Choreographer-in-Residence der Muffathalle erstmals in München vorstellt. Ballet of Difference hat er es programmatisch benannt, gegen die kanonische, hierarchische und geschlechterrollenfixierte Tradition des Balletts. Siegal zufolge sollen die unterschiedlichen Tänzerpersönlichkeiten zeigen, dass Heterogenität – im Miteinander – als Vielfalt fruchtbar wird. Nun, der Tänzerberuf ist ohnehin ein Musterbeispiel für Migration und gelebte Integration. Im Ensemble finden sich auch alte Münchner Bekannte: Katherina Markowskaja und Léonard Engel, beide zuletzt Solisten beim Bayerischen Staatsballett.
Beats und Staatsgeheimnisse
Wie schon oft hat Siegal wieder dezidiert in interdisziplinären und grenzgängerischen Kollaborationen gearbeitet: In der Musik des nach dem Ensemblenamen betitelten Stückes »BoD« mixt DJ Haram Club-Sounds mit Experimentellem und arabischer Tradition. Die Kostüme entwarf die innovative New Yorker Designerin Becca McCharen, die schon Beyoncé und Madonna eingekleidet hat, in Form aufblasbarer Körperüberformungen. »Pop HD« ist eine aus Siegals Arbeit mit dem New Yorker Cedar Lake Ballet entstandene Produktion, mit ausschweifenden Kostümen von Bernhard Wilhelm. Der deutsche, in Los Angeles
arbeitende Modemacher war Leiter der Modeabteilung der Angewandten Universität in Wien und hat auch für Björk gearbeitet – ebenso wie Edda Gudmundsdottir, die als Stylistin mitarbeitet. Die Musik stammt wieder einmal von Uwe Schmidt alias Atom™, einer Instanz in Sachen Crossover-Electro.
Ganz anders die magischen Sounds, unkonventioneller Rhythm’n’Blues, von Josiah Wise AKA Serpentwithfeetin »Excerpts of a Future Work on the Subjects of Chelsea Manning« – Siegal widmet sich hier dem Fall des Whistleblowers Bradley Manning (als Transsexuelle inzwischen mit weiblicher Identität und Vornamen Chelsea). Er/Sie wurde wegen Geheimnisverrat zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt und später von Präsident Obama mit Strafmilderung bedacht. Am 17. Mai übrigens soll Manning freikommen. So ist Siegal ein Beispiel für komplexe Ästhetiken, die auf Augenhöhe einer immer komplexeren Welt begegnen. »Vielfalt«, so heißt übrigens auch die Uraufführung von Nicole Peisl, einem Ex-Mitglied der Forsythe Company.Eine globale Gesellschaft kann nicht homogen sein, ebenso wenig die sogenannten nationalen Staaten und Gemeinschaften. Hier werden – immer noch – Minoritäten mit Merkmalen kultureller Differenz markiert: Diesem Aspekt widmen sich die kanadische Choreografin Daina Ashbee mit dem Stück »Unrelated«, das Gewalt gegen indigene Frauen in Kanada untersucht, und Xang Zhen, dessen Uraufführung »Minorities« kulturelle Traditionen von Minderheiten in China in den Blick nimmt (siehe MF 62).
Nach dem Voguing – einem Modeposen-Tanz und Subkultur-Lifestyle – bei DANCE 2015 hat sich der hybridisierende Bewegungsforscher Trajal Harrell nun einem erotisch-exotischen Schönheitstanz des 19. Jahrhunderts zugewandt: dem Hoochie Coochie. In seiner Cross-over-Revue »Caen Amour« gibt es nicht nur nackte Haut, sondern auch Schleiertänze, viel schimmernden Stoff und missbrauchte profane Kleidungsstücke zu sehen. Sinn für Mischungen und Bastardisierung wiederum beweist auch der Kanadier Fréderick Gravel, der brachialen Rock mit cooler Konzeptkunst kombiniert und für seine Uraufführung »Some Hope for the Bastards« als Live-Musik ein Barock-Pop-Hybrid in Aussicht gestellt hat. ||
DANCE 2017
Diverse Spielorte| 11.–21. Mai
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