Abdullah Kenan Karaca inszeniert im Volkstheater Sasha Marianna Salzmanns »Verstehen Sie den Dschihadismus in acht Schritten!«.
Sie sind viele. In einem mit schwarzen Kreuzen auf weißen Kacheln ausgekleideten Raum formieren sich die Schauspieler auf einem Podest zum Chor. Jeder von ihnen trägt ein zweites Augenpaar auf der Stirn. »Normalität ist nichts, was du je wieder herstellen wirst ohne uns«, erklären sie. Nein, es gibt keinen Weg zurück in das Phantasma einer heilen Welt, das macht schon die Auftaktszene eindringlich klar. Wir müssen leben in einer komplexen, vielgesichtigen Wirklichkeit, mit der Verunsicherung, mit diffusen, eingebildeten und realen Bedrohungen.
Der Titel von Sasha Marianna Salzmanns Stück weckt gezielt falsche Erwartungen: Natürlich bietet sie keinen Schnellkursus, keinen abhakbaren Punktekatalog zum Verständnis des Terrors an. Tatsächlich geht es hier gar nicht um den Islam. Vielmehr zeigt sie Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise plötzlich radikalisieren, in die Gewalt abdriften. Der junge Regisseur Adullah Kenan Karaca lässt auf der Kleinen Bühne des Volkstheaters ihre Geschichten geschickt ineinanderfließen.
Ein Panoptikum der Wut und Paranoia
Da ist Pawlik, der nicht schwul sein will und sich zu Rüzgar hingezogen fühlt. Er läuft vor seinem nationalistischen Vater davon zu seinem Freund und aus dessen Armen davon in den ukrainischen Befreiungskampf. Ein sich nach Anerkennung sehnendes Mädchen chattet mit einem Fremden, der ein Araber sein könnte, und sticht am Ende einen Polizisten nieder. Wir sehen ein hinter der Fassade eines perfekt polierten Wohlstandsglücks glückloses Paar, einen Mann, der krampfhaft versucht, sich und sein Leben in den Griff zu bekommen und in einen Strudel aus U-Bahn-Paranoia, Verstörung und Wut schlittert. Seine Frau, eine liberale Autorin, rastet aus über das Elend auf der Welt, beschwört den Untergang des bösen Westens, um sich gleich darauf in den Wunsch nach einem Kleinfamiliennest mit Kind zu flüchten. Zwischen ihnen allen gibt es keine gemeinsame Sprache. Ein Interview der Autorin mit einem Muslim, in dem sie nur nach Bestätigung ihrer eigenen Klischees sucht, gerät zur Farce.
Salzmann hat ihrem zwischen Komik und Ernst kippelnden Stück viel aufgebürdet. So punktgenau es immer wieder die gesellschaftlichen Bruchstellen trifft, was die Figuren um- und antreibt, wird oft nur vage und etwas schablonenhaft skizziert. Zumal der Griff des arrivierten Wohlstandsbürgers zum Gewehr ein nicht schlüssig motiviertes, psychologisch sehr wackliges Textkonstrukt bleibt. Doch wie Karaca und sein fabelhaftes Schauspielerquartett die Szenencollage mit Leben füllen, ist klasse. Der toll aufspielende Jakob Geßner, Jonathan Müller, Carolin Hartmann und Julia Richter wechseln rasant und mühelos die Rollen. Karaca hebt deren klare Verteilung auf, verdoppelt mitunter Figuren, die zeitgleich von zwei Akteuren verkörpert werden. Keinem lässt sich eine feste Identität, Nationalität und gesellschaftliche Position zuschreiben.
Gerade in den leiseren Momenten gewinnt die Aufführung große Intensität, wenn etwa Julia Richters Augen sich mit Tränen füllen, während sie ganz still den Worten des Fremden lauscht, ein verlorenes, liebeshungriges Kind. Einige überdrehte hysterische Ausbrüche und Brüllereien dagegen wirken bloß störend. Aber kleine Schwächen verzeiht man dieser Inszenierung gern, mit der dem jungen Team um Karaca ein starker Theaterabend gelingt. ||
VERSTEHEN SIE DEN DSCHIHADISMUS IN ACHT SCHRITTEN! (ZUCKEN)
Volkstheater – Kleine Bühne | 6. Mai
19.30 Uhr | 17. Mai| 20 Uhr | 20. Mai | 18 Uhr | Tickets 089 5234655
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