Mit »Ellbogen« legt Fatma Aydemir ein beeindruckendes Debüt vor: ein Migrationsroman – aber auch viel mehr.
Als normaler Leser ist man ja stets am Schwanken: Einerseits will man, dass in einem Buch vieles passiert, Drama will man, damit man, klein und gemütlich, von der Couch aus das Leben, groß und wild, betrachten kann. Und gleichzeitig möchte man, dass irgendwie alles gut ausgeht und man am Ende zumindest hoffnungsvoll den Buchdeckel zuklappen kann. Weil es so auch vielen Autoren zu gehen scheint, überwiegt in vielen Geschichten oft unvorteilhaft eines das andere. Das Ergebnis sind entweder unrealistisch glückliche Schlüsse, nebulöse Aussichten oder Haudrauf-Dramen, die einen depressiv bis ratlos zurücklassen.
»Ellbogen«, der erste Roman der »taz«-Journalistin Fatma Aydemir, hätte Potenzial für letzteres. Aydemir erzählt die Geschichte von Hazal Akgündüz und deren Leben zwischen türkisch-traditionsreichem Elternhaus und bundesdeutschem Alltag in Berlin. Die 17-Jährige wird erst beim Klauen erwischt, hat dann einen grässlichen Geburtstag und begeht schließlich einen Fehler, für dessen lebenslange Auswirkungen auch die 271 Seiten Roman nur ein Anfang sein können. Und trotzdem lehrt das Buch, wie ein Roman auch sein kann: das Leben in all seinen Grausamkeiten zu schildern, ohne dass man nach der letzten Seite Schnaps trinken möchte. Es zeigt vielmehr, dass Ent- und Ermutigung gelegentlich ganz nah beieinanderliegen.
Die Brutalität der Sprache
Dabei macht Hazal es einem von Anfang an nicht leicht. Sie lügt ihre Eltern an, schiebt einen Groll auf ihren Bruder, streitet sich mit ihren Freundinnen, nimmt Drogen. Als es brenzlig wird, haut sie ab, helfende Hände stößt sie weg. Und trotzdem: Schon nach wenigen Seiten ist man neugierig auf sie – darauf, warum sie so einsam ist, darauf, wo die Wut herkommt, und, es lässt sich nicht anders sagen, darauf, wo Hazal herkommt. Wie fremd diese Welt ist, zeigt sich schon an der Sprache: Fotzen, Muschis, Fluchtis (statt Flüchtlinge) und Opfernutten gehören zum Alltagsvokabular der jungen Frau und ihrer Freundinnen. Das Umfeld steht der Sprache an Brutalität in nichts nach: der Vater, der der Tochter die Haare abschneidet, weil sie den Schlüssel vergisst, oder die Mutter, der es lieber ist, ihre Tochter arbeitet in der Bäckerei oder putzt, statt sich auf einen Beruf vorzubereiten, und literweise Wodka und gefühlt kiloweise Drogen – es ist eine harte Welt, eine, in der es nicht um Wünsche und Möglichkeiten, sondern um Müssen und Durchhalten geht. Oder wie es Hazal selbst schildert: »Mein Thema lautet: Überleben.«
Das Buch führt in eine Welt, die einem einerseits vertraut vorkommt: der Streetslang, das immer wieder auftauchende Wort »Opfer« – in Sätzen wie »Mein Kopf brummt vom Opfersein«. Alles kennt man irgendwie, aus der U-Bahn, den sozialen Netzwerken, dem Spaziergang durch Berlin-Neukölln. Doch je mehr man von Hazal und ihren Freundinnen liest, desto mehr merkt man: Man hat eher vage Ideen als konkrete Vorstellungen im Kopf. Mit Namen wie Mehmet assoziiert man »Bild«-Schlagzeilen, bei Worten wie Abschiebung denkt man eher an Statistiken als an einen Bekannten. In Aydemirs Buch werden daraus vier Freundinnen, ein Facebook-Schwarm, Lebensgeschichten. Aus gutem Grund wird der Roman derzeit als ein Buch gefeiert, das den »Kartoffeln« das Leben der Menschen erklärt, um deren Benennung eben jene Kartoffeln sich mit der Universalformel »Migrationshintergrund« drücken.
Hinter dem Migrationshintergrund
Dem kartoffeligen Leser tut sich also eine Welt auf, zu der er mehr Klischees als Fakten im Kopf hat. Und so hat man am Ende des Buches vor allem kapiert, was man alles nicht weiß vom Leben der drei Millionen Türken, die in Deutschland wohnen. Und zum Glück zeigt es nicht nur einen möglichen Ausschnitt aus diesem Leben, sondern auch ein wenig, wie die Kartoffeln dabei abschneiden, nämlich nicht gut: Sie sind ungeschminkt, gehen im Sozialarbeiterhabitus mit Ausländern um und haben so viel Geld, dass sie ihre Wohnungen von Profis einrichten lassen. Letztendlich ist es, ja, ein Buch über Migranten, Integration, all die Begriffe, die das längst zum Glück sehr vielfältige Deutschland
wieder in Sprachschubladen aufteilen. Vor allem ist es aber ein Buch über Wut, Einsamkeit und Ermächtigung: Über die Zerrissenheit, in der die junge Frau steckt, die »Ich hab die Welt verstanden«- Haltung einer 18-Jährigen, gepaart mit einer tiefen Angst vor dem Leben und der gleichzeitigen Suche nach den eigenen Bedürfnissen.
Einmal fragt Hazals Tante Semra sie: »Was wünschst du dir?« Hazal antwortet: »Nichts, ich wünsche mir gar nichts. Was soll das schon bringen. Du bist kein Scheißflaschengeist.« Und genau der Teil mit dem »Scheiß« ist das Beste an der Geschichte. Dass es eine Frau ist, die richtig Scheiße baut, dass sie das tut, obwohl ihr solche Scheiße niemand zutraut, und weil sie es genauso nennt: Scheiße. Dass die Frau türkische Eltern hat, ist dafür tatsächlich: scheißegal. ||
FATMA AYDEMIR: ELLBOGEN
Hanser, 2017 | 272 Seiten | 20 Euro
AUTORENLESUNG
5. April | Moderation: Florian Kessler
Buchhandlung Lehmkuhl | Leopoldstr. 45
20 Uhr | Telefon 089 380150-0
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