Anja Sczilinski inszeniert Lukas Moodyssons»Lilja-4-ever« atmosphärisch dicht mit jungen Laien.
»Mein. Herz. Brennt!« Zu Beginn des Films peitscht harter Rammstein-Sound das verzweifelte Mädchen Lilja durch eine graue Stadt. Im Marstall, wo Anja Sczilinski Lukas Moodyssons »Lilja-4-ever« mit der intergroup des Jungen Resi inszeniert hat, zupft Sonny Thet sein Cello, und dunkle Gestalten vereinen sich zu einem höhnisch-wohlklingenden Chor: »Alle spucken auf dich!«, singen alle außer Lilja, deren Geschichte auch hier an ihrem bitteren Ende aufgenommen wird und dann an den Anfang springt, wo sie hoffnungsvoll ihre wenigen Habseligkeiten in eine Tasche packt.
Nach Amerika soll es gehen, denkt sie – und rechnet nicht mit der Selbstsucht ihrer Mutter, die die einzige Tochter alleine zurücklässt in der osteuropäischen Vorstadttristesse. Ohne Zukunft. Allein mit der brüchigen Loyalität ihrer Freunde. Allein mit den Männern, deren schmutziges Geld bald die einzige Einkommensquelle der 16-Jährigen ist. Bis sie das Versprechen einer großen Liebe nach München lockt (beim Schweden Moodysson war das falsche Eden Stockholm) – direkt in die Arme eines Zuhälters, hinauf auf die Autobahnbrücke und hinab in den Freitod.
Es ist beachtlich, mit welcher Leichtigkeit die 19-jährige Schülerin Soraya Bouabsa in der Titelrolle den Abend trägt, in dem außer Genija Rykova und Gunther Eckes nur jugendliche Schauspiellaien auf der Bühne stehen. Wie sie Kind ist und unbeschwert, aber auch einsam, wütend und schließlich zerstört, ohne eines dieser Gefühle zu sehr zu forcieren. Auch der erst 15-jährige Simon Schwald als Liljas kindlicher Verehrer Volodja überrascht mit seinem Mut zum nicht-ostentativen, geradezu entspannt wirkenden Spiel.
Die wie eine riesenhafte Lichtschachtabdeckung auf hohen Eisenbeinen schräg in den Raum gebaute Bühne Bärbel Kobers, in der statt eines starren Gitters Maschendraht federt, ist Liljas trügerisches Nest und die abschüssige Rampe über einem Abgrund, in dem sich Freier, Gefahren und falsche Freunde zusammenrotten. Die mal zarte, mal eindringlichdynamische Livemusik des Cellisten und die Sprechchöre derer, die Lilja locken, mobben oder ihr im Supermarkt Kredit verwehren, weben ein dichtes Netz von Stimmungen, das auch die jugendlichen Darsteller, deren Bewegungen Alan Brooks in dynamischen Gruppenchoreografien gebündelt, verfremdet und mitunter auch zeitlupenhaft verlangsamt hat, auffängt und schützt.
Vorausschauende Milde gegenüber darstellerischen Schwächen oder allzu konkreten Sex- und Gewaltszenen lässt auch ein milchiger Vorhang walten, der irgendwann zwischen Bühne und Zuschauerraum niedergeht. Insgesamt gelingt Sczilinski und ihrem Team eine atmosphärisch eindringliche Arbeit, die sich klar und selbstbewusst von der starken Filmvorlage emanzipiert. Doch manch chorisches Raunen innerer Stimmen gerät unnötig melodramatisch und erklärselig, und manche Szene dauert länger, als es die hinter ihr stehende Grundidee verlangt. ||
LILJA-4-EVER
Marstall| 13., 27. März, 3. April| 20 Uhr | 28. März, 4. April
10 Uhr | Tickets: 089 21851940
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