Volkstheater: Nicolas Charaux findet mit einem glänzenden Ensemble eindrucksvolle Bilder für Kafkas »Schloss«.
In einer zur Rampe hin geschlossenen Wand ist eine halb von Jalousien verdeckte Scheibe. Und plötzlich purzelt jemand aus dem schwer einzusehenden Bild: Es ist K., und zwar einer von vielen, die auf der Bühne des Volkstheaters den Weg zum Schloss suchen und zu den Ohren diverser Wirtinnen, Boten und Verwaltungspersonen, die in Nicolas Charaux’ Inszenierung von Franz Kafkas unvollendetem Roman allesamt zottelige Pelzmäntel und -Kappen über schmutziggrauen Overalls tragen und von Zuckungen der Nerven oder der Bosheit geschüttelt werden.
Das Undurchschaubare als Zentrum
Ebenso übrigens wie all die K.s, die sich immer wieder neu aus einer Kollektivbewegung herausschälen
oder übrig bleiben, wenn die anderen weiterziehen. Dieses Verfahren betont die existenzielle Verlassenheit von Kafkas Protagonisten, dessen Ziele sich wie in einem besonders verzwickten Labyrinth immer weiter von ihm entfernen, je näher er ihnen zu kommen versucht. Es verbildlicht die Dynamik des Einer-gegen-den-Rest-der-Welt, bis der Rest sich nicht mehr entschlüsseln lässt: »Ihr seid einander ja ähnlich wie Schlangen«, sagt der »Landvermesser« K. verwundert zu seinen »Gehilfen«. Und dies ist mit Sicherheit einer der Sätze, die Charaux sehr genau gelesen hat.
Der junge französische Regisseur, der in der letzten Spielzeit schon Lars Noréns »Dämonen« auf der kleinen Bühne des Volkstheaters spuken ließ, hat das Undurchschaubare in Kafkas »Das Schloss« zum zentralen Thema gemacht – und er hat in Pia Grevens Bühnenkasten, der erst langsam aus der Wand heraus, später aber auch schnell wie ein Karussell um sich selbst gedreht wird, eine wunderbare Landschaft für seine Inszenierung. Sie wird bewegt von der Körperkraft der Wesen, die sie bewohnen und wartet mit immer neuen Nischen und Winkeln auf, in denen der Grünspan giftige Muster auf Kupferwände malt. Sie ist ein geradezu unvermessbares Rätsel und damit ganz wie das Dorf rund ums Schloss, in dem »Gastfreundlichkeit nicht Sitte« ist.
Albernheit auf hohem Niveau
Die Dorfbewohner haben hier weiß geschminkte Gesichter und begegnen K. als mal insektenemsige, mal wie Schlangen zischelnde und nagerhaft mümmelnde Kreaturen oder als vergeistigt »Hui« rufende Backgroundtänzer, während im Vordergrund der Dorfvorsteher die Ausweglosigkeit von K.s Situationen so atemlos erläutert, als würde sein Restverstand gerade in den lässig geknüpften Schlaufen der Verhinderungsbürokratie erdrosselt. Charaux hat Ideen en masse und lässt dem Aberwitz zwischendurch freien Lauf. Da wird zombiehaft geschlichen und gegähnt, ein Schauspieler von einem anderen wie eine Puppe geführt, da gibt es Lachkreischmonologe ohne ein verständliches Wort oder sehr besonnenes Erzählen mit perfekt imitierten Tonstörungen.
Gut, manches ist schlicht albern, aber alles hervorragend gemacht. Deshalb müssen die acht Schauspieler alle genannt werden: Luise Kinner, Pola Jane O’Mara, Mara Widmann, Carolin Hartmann, Jonathan Müller, Mehmet Sözer, Jakob Geßner und Silas Breiding legen eine so geschlossene, bewegungsgenaue und sprachsensible Ensemble-Glanzleistung hin, dass sie sich zum wie im Buch offenen Ende hin selbst schwindelig spielen. Der bilder- und actionreiche Abend ersetzt nicht den individuellen Weg durchs Buch, macht aber Lust darauf, ihn bald wieder zu wagen. Lust auf Theater macht er sowieso. ||
DAS SCHLOSS
Volkstheater | 11., 12., 28. Feb., 1., 8., 9. März | 19.30 Uhr
Tickets: 089 5234655
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