Zwischen Woody Allen, der Bibel und Wes Anderson: Jonathan Safran Foer erzählt in seinem neuen Roman »Hier bin ich« von Auflösung und Verwandlung.
Jonathan Safran Foer: »Hier bin ich«
Der Ursprung ist die Nähe des Abstands
Es gibt Witze, die dürfen nur Juden reißen. Jonathan Safran Foer spickt seinen neuen Roman regelrecht damit und macht so dieses fast 700 Seiten schwere Buch leicht. Foer erzählt die Geschichte einer Familie, die nicht unglücklicher ist als die meisten Familien und also eigentlich ganz normal: Sam, knapp 13 Jahre alt, der älteste Sohn von Jacob und Julia und Bruder von Max und Benjy, steht unwillig
kurz vor seiner Bar Mitzwa.
Die meiste Zeit verbringt er als Latina im virtuellen »Other Life« und stellt alles in Frage, wovor er nicht fliehen kann, am wenigsten vor seiner Familie: »Sein Dad war besessen von behauptetem Optimismus, imaginärer Anhäufung von Besitz und Scherzen; seine Mom von Körperkontakt vor Abschieden, von Fischöl und Mänteln (…). Max war besessen von extremer Empathie und Entfremdung, Beniy von Metaphysik und physischer Geborgenheit. Und er, Sam, hatte immer Sehnsucht. Wodurch zeichnete sich dieses Gefühl aus? Durch Einsamkeit (seine und die anderer), durch Schuld (seine und die anderer), durch Scham (seine und die anderer), durch Angst (seine und die anderer). Aber auch durch sturen Glauben und sture Würde und sture Freude.
Das Leben ist kein Film von Wes Anderson
Und trotzdem bestand das Gefühl weder aus einem dieser Aspekte noch aus allem zusammen. Es war das Gefühl, jüdisch zu sein.« Julia, die Häuser entwirft, die nie gebaut werden, weiß, dass ihre Ehe wie alle anderen Beziehungen auch auf »bewusstem Wegschauen und Vergessen« basiert. Das geht relativ gut, bis Jacob, der eigentlich nur geliebt werden will, einen sehr dummen Fehler macht und damit einen innerfamiliären Erdrutsch auslöst. Als kurz vor der Bar Mitzwa ein Erdbeben den ganzen Nahen Osten erschüttert, stirbt Großvater Isaac, und die Naturkatastrophe führt fast zur (Selbst-)Zerstörung Israels.
Jonathan Safran Foers Roman lebt von seiner unglaublichen Lust am Fabulieren. Er webt einen Teppich aus vielen Strängen und unterschiedlichen Materialien und frappiert den Leser mit Frechheiten fern aller Political Correctness. Er erzählt brüchige, traurige und dabei irrsinnig lustige Geschichten, unter denen schwarzes kaltes Wasser steht. Irgendwann sagt Sam: Das Leben ist kein Film von Wes
Anderson. Aber genau so liest sich dieses Sammelsurium liebenswerter Gestalten mit all ihren Neurosen und Gedankenblitzen. »Hier bin ich« heißt es, weil dies Abrahams Antwort war, als Gott ihn rief – und im nächsten Satz Isaac als Opfer verlangte. Sam wundert sich, dass Abraham nicht »Ja« oder »Was ist?« sagte.
»Hier bin ich« ist ein schlichtes, merkwürdig beruhigendes Statement, das sich auf den letzten Seiten voller Würde in »Ich bin bereit« verwandelt. Am Ende weiß man einmal mehr, dass Jonathan Safran Foer ein wunderbarer Autor ist. ||
JONATHAN SAFRAN FOER: HIER BIN ICH
Übersetzung: Henning Ahrens
Kiepenheuer & Witsch, 2016
688 Seiten | 26 Euro
Das könnte Sie auch interessieren:
Dmitrij Kapitelman: Der Roman »Eine Formalie in Kiew«
»Vernichten«: Der neue Roman von Michel Houellebecq
Rachel Salamander: Ihr Archiv in der Monacensia
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton