Zwei Filmstarts kurz vor Jahreswechsel: Sofia Glasl über »Das Ende der Welt« (29. Dezember) und »Nocuturnal Animals« (22. Dezember).
NOCTURNAL ANIMALS
USA 2016 | Regie: Tom Ford | Mit: Amy Adams,
Jake Gyllenhaal u.a. | 117 Minuten | Kinostart:
22. Dezember
Susan lebt als Galeristin in der hyperstilisierten Kunstwelt von LA. Schönheit, Geld und Macht sind die Werte, um die sich ihr Dasein dreht. Innerlich leer trotz oder gar wegen all der Äußerlichkeiten, wird sie nachhaltig erschüttert, als sie von ihrem Exmann Edward dessen neuen Roman zugeschickt bekommt. »Nocturnal Animals« heißt das Buch und ist ihr gewidmet.
Regisseur Tom Ford zeigt in seinem gleichnamigen Spielfilm, wie die Lektüre des Romans Susan aus der Bahn wirft. Der Film reflektiert Susans Leseprozess und zeigt, wie die Romanhandlung vor ihrem geistigen Auge entsteht. »Nocturnal Animals« ist ein Film über das Werden von Kunst und über die unmittelbare Wirkung, die sie auf den Rezipienten haben kann. Ford errichtet in den beiden parallel verlaufenden Handlungssträngen ein Spiegelkabinett aus Figuren und Racheplots und verschränkt diese ästhetisch und technisch miteinander. Die Hauptfigur des Southern-Noir-Romanplots sieht aus wie Edward, auch dessen Ehefrau und Tochter sehen Susan selbst zum Verwechseln ähnlich.
Match-Cuts und musikalische Brücken verweben beide Ebenen und verschwimmen mit Susans Erinnerungen an ihre Ehe mit Edward. Susan liest das Buch als Edwards späte Rache dafür, dass sie ihn verlassen hat. Sämtliche Zeitebenen der Beziehung laufen für sie in dem Buch zusammen und stellen ihre Lebensentscheidungen in Frage. Tom Fords strenger Formwille und die überbordende Ästhetik laufen so in einem trancehaften Psychogramm zusammen, das im besten Sinne an »Blue Velvet« oder »Mulholland Drive« erinnert. ||
EINFACH DAS ENDE DER WELT
Kanada, Frankreich 2016 | Regie: Xavier Dolan
Mit: Gaspar Ulliel u.a. | 99 Minuten
Kinostart: 29. Dezember
Louis hat sich von seiner Familie entfremdet und kehrt erst nach zwölf Jahren wieder zurück. Man kann es ihm kaum verdenken, denn seine Verwandten sind der Horror. Während sie vorgeben, sich über seinen Besuch zu freuen, rotieren sie eigentlich nur um sich selbst.
Diese bewährte Dramenformel entwickelt in Xavier Dolans Adaption von Jean-Luc Lagarces »Das Ende der Welt« keinerlei Dynamik, sondern arbeitet nur mechanisch sämtliche Streitkonstellationen ab: Die Mutter macht Louis Vorwürfe, Mutter und Schwester streiten sich, der Bruder keift seine Ehefrau an und so fort. Obwohl unentwegt geredet wird, vermeiden es alle zu fragen, weshalb Louis zurückgekehrt ist. Sie scheinen es zu ahnen und gleichzeitig nicht wahrhaben zu wollen – er versucht ihnen zu sagen, dass er bald sterben wird. Die in klaustrophobischen Nahaufnahmen inszenierte Theatralität der Streitereien stagniert mit der Zeit. Das Dauergerede wird zum Hintergrundgeräusch, weil man als Zuschauer irgendwann keinerlei Bewegung mehr erwartet.
Das erstklassige Ensemble um Gaspard Ulliel hat aufgrund der rigiden Form kaum eine Chance, die Figuren zu entwickeln. Marion Cotillard als unsicher vor sich hin stotternde Schwägerin und
Vincent Cassel als jähzorniger Bruder haben es besonders schwer, sich von den stereotypen Rollen zu lösen. Weshalb Dolan das Theaterstück, das ursprünglich in den frühen 1990er-Jahren spielte, als die erste Welle der Aids-Epidemie in vollem Gange war, seines Kontextes beraubt hat? Wer weiß. ||
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