Im Giesinger Kulturbahnhof brachte Anette E. Weber ihr gesellschaftskritisches Stück »Bar jeden Mitgefühls« heraus.
Bar jeden Mitgefühls
Lastenräder zu Wirtshäusern!

Das Ensemble an der »Bar jeden Mitgefühls« © Thomas Bruner
Im Coronajahr 2020 nahm sich Anette E. Weber mit der Theaterproduktion »So lonely« des Themas Einsamkeit an und kreiste es im Giesinger Bahnhof revuehaft ein. Für die Recherche hatte sie extra ein Ministerium der Einsamkeit gegründet und an »Infoständen« mit Menschen übers Allein- und Einsamsein gesprochen. Mit ihrer neuen Theaterarbeit »Bar jeden Mitgefühls« hat Weber im Giesinger Kulturbahnhof eine umfangreiche Stoffsammlung zum Thema, wie wir eigentlich miteinander umgehen, auf die Bühne gebracht.
Der Stücktitel wird in der Inszenierung ganz wörtlich genommen: Vehikel des Abends ist ein handelsübliches Lastenfahrrad, das zu einer Bar umgebaut wurde (Ausstattung: Thomas Bruner). Im Angebot hat die Wirtin (Sabine Hollweck), die mit dieser Geschäftsidee, ihrem prekären Leben entkommen will, Drinks, die wie Wellnesstees klingen: »Herzenswärme«, »Warm ums Herz« und »Klarsicht«. Ihr fast einziger Kunde ist ein New-Economy-Schnösel (Joshua Jacobs), der mit seinem Handy verheiratet ist und vor allem um seinen Senatoren-Status bei der Airline bangt. Und nicht vergessen: Status posten. Die herzensgute Barbetreiberin, wertet und urteilt nicht. Sie hört sich die Worthülsen des in den Weiten der modernen Welt untergegangenen Aufsteigers an und gewährt ihm mit sanften Nachfragen eine Art kostenlose Therapiestunde. Dann gibt es da noch den oberschluffigen Paketzusteller (Musiker Lukas Maier), der in Birkenstocks und Wollsocken Pakete bei der mobilen Barfrau ablädt, was diese seufzend hinnimmt.
Um diese zentralen Figuren gruppiert sich der Laienchor (Carina Germann, Susanne Goodman, Waki Meier, Anna Stummbaum, Margaret Reuter) in szenischen Interventionen. Zackig schreiten die Chorfrauen den Raum ab und zählen auf, womit man so alles mitfühlen kann, wenn man denn wollte. Doch eigentlich hoffen sie drauf, dass jemand anders sich kümmert, wenn eine in der U-Bahn weint. Der Wunsch, Leiden zu reduzieren, wie der kölsche Pfarrer Mitgefühl definiert, ist schon vorhanden. Aber da soll der Staat ran. Zivilcourage erhofft man sich von anderen und in der hektischen Telefon-Mitfühlzentrale geht es zu wie an der Börse: Angst ist hoch im Kurs. Wut kriegen sie täglich neu rein. Wer bietet Hoffnung? »Zum Frühstück Krieg, zum Abendessen Ungerechtigkeiten«, heißt es einmal. Das beschreibt leider den Zustand der Welt ganz gut. Anette E. Webers Collage aller möglichen Baustellen der Gesellschaft bietet keine Analyse, sie bildet Ausschnitte ab und trifft einen Nerv – wenn man das zulässt. Und das Lastenrad als Bar könnte sich durchsetzen.
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