Die erste Ausstellung der neuen Direktorin Laura Cohen in der Dachauer Gemäldegalerie präsentiert die Künstler-Kolonie Solingen.
Künstler-Kolonie Solingen
Auf Reisen

Blick unterwegs – Erwin Bowien: »Balkonaussicht auf Locarno« | 1962 | Öl auf Lwd., 135 x 75,5 cm | Privatbesitz, Foto: Daniela Tobias
Berge und Wiesen, Fjorde und Inseln, Wolken und Spiegelungen, kalte und warme Farben: »Sandnessjoen. Das Wetter war märchenhaft und ich habe eine solche Fülle von Motiven und Schönheit noch nie an einem einzigen Tag erlebt«, schreibt Erwin Bowien (1899–1972) aus Norwegen 1969 an Bettina Heyen-Ayech. Da war er bereits 70 und hatte schon am Bodensee, in Wien und Venedig gemalt, im Tessin, in den Niederlanden, in Nordafrika, im Allgäu. Und in Solingen, wo er als 1925–32 als Kunsterzieher am Gymnasium und Volkshochschuldozent tätig war. Im Kreis der Familie Heinen hatte er das Talent der Tochter Bettina Heinen-Ayech (1937–2020) kennengelernt: Sie wurde seine Malschülerin, er blieb ihr Mentor. Und sie gingen immer wieder gemeinsam auf Reisen – mit Farben, Pinseln und Staffelei. Auch zusammen mit Amud Uwe Millies (1932–2008), der 1949 dazustieß, ebenfalls Bowiens Malschüler wurde und seit 1955 mit im »Schwarzen Haus« in Solingen wohnte. Weshalb nun zeigt die neue Direktorin der Gemäldegalerie Dachau, Laura Cohen, in ihrer ersten Ausstellung diese drei Solinger und ihre Malreisen? Das Stichwort lautet: Künstlerkolonie.
Von Ahrenshoop über Kronberg im Taunus bis Willingshausen und Worpswede spannt sich – in alphabetischer Folge – das Spektrum von Künstlerkolonien in Deutschland. Auf der Landkarte Europas erstreckt sich diese Kunst- und Lebenspraxis vom norwegischen Balestrand im Sognefjord und dem finnischen Önningeby bis zum Südtiroler Klausen und dem ungarischen Gödöllö. Dachau, selbst eine bedeutende und traditionsreiche Künstlerkolonie, ist Mitglied der europäischen Vereinigung euroArt von 130 Künstlerkolonien, weshalb man in den Sonderausstellungen der langjährigen Direktorin Elisabeth Böser sowohl Dachauer Malerei immer wieder neu entdecken als auch den Atmosphären anderer Landschaften begegnen konnte.
Auf einer euroArt-Tagung lernte Laura Cohen nun Haroun Ayech kennen, Bettinas Sohn und Gründer der Bettina Heinen-Ayech Foundation, die in Solingen ein Museum etabliert: Zwei Fachwerkhäuser, das kleine »Rote Haus«, ein Backsteingebäude, und das »Schwarze Haus« daneben, ein mit Schieferplatten verkleidetes ehemaliges Steigerhaus eines Bleibergwerks, waren seit 1932 im Besitz von Hanns Heinen und Erna Heinen-Steinhoff, die schon zuvor einen Salon mit prominenten Gästen aus Literatur, Kunst und Geistesleben führten, wo auch Erwin Bowien verkehrte. 1945 zog Bowien, quasi Familienmitglied, in das Schwarze Haus und prägte die Salontradion mit – und die Atelier- und Reisegemeinschaft der malerisch ganz unterschiedlich arbeitenden Drei. Sie suchten ihre Motive freilich auch allein: Millies neben den gemeinsamen Reisen in Europa in weiterer Ferne – in Ägypten, im Himalaya, in Alaska, im Hochland von Peru, am Hindukusch. Anfangs Bowiens Malduktus folgend, malte er späten Jahren in zart-durchscheinendem Farbauftrag.

Stadt als Landschaft – Amud Uwe Millies: »Wuppertal« | 1961 | Öl auf Lwd., 78 x 100 cm | Privatbesitz, Foto: Martin Ley
Bettina Heinen-Ayech wiederum entwickelte eine farbenstarke Aquarellmalerei. »Nie vergesse ich die rosafarbige Küste Nordafrikas, wie ich sie vom Schiff aus gesehen habe«, erinnert sie sich an ihre Reise nach Guelma, der Heimatstadt ihres Ehemannes, das nach und neben Solingen zum neuen Lebensmittelpunkt wurde. Das »unglaubliche Licht« und die starke Farbigkeit forderten ihre Malerei heraus. Fotografien in der Ausstellung und im schönen Katalog zeigen die Künstler*innen vor dem Motiv: Millies in Heidelberg, Bowien in Paris, Heinen-Ayech mit ihrem Renault R4 als mobiles Atelier – und alle drei gemeinsam auf einem Balkon in Locarno.

Die neue Heimatstadt – Bettina Heinen-Ayech: »Die Dächer von Guelma« | 1970 | Aquarell auf Papier, 72 x 102 cm | Privatbesitz, Foto: Daniela Tobias || © Bettina Heinen-Ayech Stiftung, Gemäldegalerie Dachau (3)
Was die Ausbildung und Ausstellungskarriere betrifft, war Bettina Heinen-Ayech die erfolgreichste, gleichwohl steht Erwin Bowien im Fokus dieser Ausstellung. Anhand der gezeigten Werke lässt sich der Zeitkontext und sein Leben – als Gegner des Krieges und der Nationalsozialisten – anknüpfen. So präsentiert die Ausstellung nicht nur malerische Ansichten und künstlerische Blicke auf die Welt, nicht nur eine andere, hier recht spezielle Künstlerkolonie, anhand dieser »Reise-Bilder« kann man sich auch fragen,»was hat das mit mir, mit unserer heutigen Welt zu tun?«, so Laura Cohen. »Wie reisen wir? Warum reist man?« Im hinteren Ausstellungsraum gibt eine Texttafel mit der Überschrift »Unfreiwillige Reisen« zu denken.
Seit 1932 lebte und arbeitete Bowien in den Niederlanden; um nach deren Besetzung 1942 der Musterung zu entgehen, schlug er sich – ohne gültige Militärpapiere – in Deutschland durch. Da im Krieg Leinwand knapp wurde, nutzte er abgekratzte NS-Propaganda-Bilder für seine gut verkäufliche Stadtansichten, was zu einem Verkaufs- und Malverbot führte, bis er schließlich im abgeschiedenen KreuzthalEisenbach zur Familie Heinen stieß. Nach 1945 malte er ein Bild der heimatlichen Wupper, eines der ersten nach Kriegsende, auf einem ehemaligen Militär-Mehlsack, die Naht ist bei genauerem Hinsehen sichtbar. ||
IN DER WELT UNTERWEGS – DIE KÜNSTLERKOLONIE SOLINGEN
Gemäldegalerie Dachau | Konrad-AdenauerStr. 3, 85221 Dachau | bis 27. April | Di bis Fr 11–17 Uhr, Sa/So/Fei 13–17 Uhr | Führung: 27.4., 14 Uhr | Der Katalog (80 S., zahlr. Abb.) kostet 19 Euro
Weitere Besprechungen finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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