»Sing Sing« erzählt die Geschichte eines Theaterprojekts, das im tristen US-Gefängnissystem Hoffnung und Sinn stiftet.
Sing Sing
Traumfabrik hinter Gittern

»Sing Sing« basiert auf der wahren Geschichte von John »Divine G« Whitfield, der die Theatergruppe mitgründete © 2023 DIVINE FILM, LLC
Die Scheinwerfer gehen aus und der Vorhang fällt. Das Publikum applaudiert begeistert und trägt Lysander, Theseus und Puck aus Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« auf einer Woge der Begeisterung hinter die Bühne. Hier legen sie die Kostüme ab und tauschen sie gegen ihre Alltagskleidung: Gefängnisuniformen machen aus den Schauspielern wieder Häftlinge. In Reih und Glied treten sie an und werden zurück in ihre Zellen geführt, aus dem Sommernachtstraum zurück in die triste Realität.
Der Gegensatz von Traum und Wirklichkeit ist ein bestimmendes Moment in Greg Kwedars Spielfilm »Sing Sing«, benannt nach dem berühmt-berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis nördlich von New York City. Hier sitzen Männer ein, die für Mord, Totschlag und gefährliche Körperverletzung zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind, egal ob zu Recht oder nicht. Wie die meisten anderen US-Gefängnisse ist es weniger als Ort bekannt, in dem viel Raum für Schöngeistiges und Kunst bleibt. Diese Leerstelle bedeutet allerdings nicht, dass es keinen Bedarf gibt – ganz im Gegenteil.
Greg Kwedar hat seinen Film in der Anfangszeit des Programms »Rehabilitation through the Arts«, kurz RTA, angesiedelt, das Mitte der 1990er Jahre in Sing Sing entstand: ein Theaterprojekt, in dem Insassen, angeleitet von erfahrenen Autoren und Regisseuren, Inszenierungen erarbeiten und für ihre Kameraden aufführen. Die Arbeit in der Gruppe, die Beschäftigung mit Dramentexten und die Selbsterfahrung durch die Einfindung in unterschiedliche Rollen ist Teil ihrer Rehabilitation. Seither hat sich RTA zu einer wirksamen landesweiten Initiative entwickelt: Nur 3 Prozent der RTA-Teilnehmer werden nach ihrer Entlassung erneut inhaftiert, während die Rückfallquote sonst über 60 Prozent liegt.
Kwedar wurde 2005 auf das Projekt aufmerksam, als er eine Reportage über den Mitgründer John »Divine G« Whitfield las, der lange unschuldig in Sing Sing einsaß. Der Film beruht also auf wahren Begebenheiten und Personen, ist jedoch kein klassisches Biopic, sondern ein Porträt über und vor allem mit RTA-Teilnehmern. Ein Großteil der Rollen ist mit ehemaligen Häftlingen besetzt, die mithilfe des Programms wieder auf die Beinegekommen sind. Gemeinsam mit ihnen entwickelte Kwedar den Film.
Der Handlungsbogen zeigt den Probenprozess für ein neues Stück und begleitet die Figuren in ihrer individuellen Entwicklung. Zwar ist eine der beiden Hauptrollen mit einem professionellen Darsteller besetzt, sicherlich auch als Zugpferd, um dem Film umfassende Aufmerksamkeit zu verschaffen: Der wunderbare Colman Domingo (»If Beale Street Could Talk«, »Rustin«) spielt sich als Divine G jedoch niemals in den Vordergrund, sondern lässt seine Kollegen regelrecht schillern. Hier geht es vor allem um die einzelnen Charaktere und ihre Geschichten: um Divine Eye, Blaze, Dino, Mike Mike und die anderen. Viele von ihnen spielen sich selbst.
Gedreht wurde vor Ort in Sing Sing. Man mag sich kaum vorstellen, was es für die Darsteller bedeutete, als Schauspieler zurück an den Ort zu kommen, an dem sie Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens abgesessen haben. Vor allem in den Probenszenen der Theatergruppe entstehen berührende Momente, die sie als Individuen zeigen, nicht als Nummern in einem System, das sie schon abgeschrieben und vom American Dream ausgeschlossen hat. In diesen Momenten kommt die sonst konventionell geführte Kamera in Bewegung, nimmt Teil am Kreis der Improvisationsübungen, in denen sich die Männer an ihren Lieblingsort versetzen oder einen lange vergessenen Freund vorstellen sollen.
Wenn sie im Anschluss davon berichten, wo sie sich hingeträumt haben und was das im Hier und Jetzt mit ihnen macht, bröckeln langsam die Fassaden, die sie im Gefängnis als Selbstschutz um sich herum gemauert haben – und sie lassen uns in kurzen, aber intensiven und zauberhaften Momenten an ihrem emotionalen Kopfkino teilhaben. Auch Sorgen kommen an die Oberfläche: Was, wenn sie hier eigentlich besser aufgehoben sind als draußen, wo es für sie keinen Platz mehr gibt? Die Theatergruppe, das wird mehr als deutlich, ist für sie nicht nur Zeitvertreib oder eine Zweckgemeinschaft, sondern ein Ort der inneren Freiheit, an dem sie wieder zu sich selbst finden können – Katharsis in ihrer reinsten und intensivsten Form. Nicht für jeden von ihnen wird es eine Erfolgsgeschichte, die in einer Entlassung endet, doch der Film bekräftigt: Jeder Einzelne von ihnen ist jemand, an den es sich zu glauben lohnt. Deshalb ist es auch wichtig, dass dieses Werk die erste Produktion der Filmgeschichte ist, die parallel zum Kinostart in über 1000 US-Gefängnissen gezeigt wird. Unterhaltung, Kunst und Aktivismus, das zeigt dieses Projekt, müssen keine Gegensätze sein, sondern bedingen einander im besten Falle gegenseitig. ||
SING SING
USA 2023 | Regie: Greg Kwedar | Drehbuch: Greg Kwedar, Cling Bentley | Mit: Colman Domingo, Clarence Maclin, Paul Raci, Sean San José | 107 Minuten | Kinostart: 27. Februar | Website
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