Rachel Ruysch malte schon mit 15 Jahren und noch mit über 80, bewegte sich souverän zwischen Kunst und Naturwissenschaft, Feinmalerei und künstlerischer Freiheit. Die Alte Pinakothek präsentiert die höchst erfolgreiche Künstlerin in einer grandiosen Ausstellung.
Rachel Ruysch
Außergewöhnlichst

Mit Dornschwanzechse und anderem Getier – Rachel Ruysch (1664–1750) : »Stillleben mit Blumen und Früchten« | 1714 | Öl auf Leinwand, 97 × 123,2 cm | Inventarnummer 12580, Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Karl und Magdalene Haberstock-Stiftung | © Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Nicole Wilhelms
»Von der Frau fanden wir zum Glück zwey Stücke, dann sie hat sonst gar selten etwas fertiges, indem bey ihr alles auf ein Jahrlang hinaus bestellet wird», notiert der Patrizier und Büchersammler Konrad von Uffenbach, als er 1711 einen Besuch im Atelier von Rachel Ruysch in der Amsterdamer Wolvenstraat absolviert. »Diese zwey Stücke waren vor Herrn la Court in Leiden, davor er ihr fünfzehen hundert Gulden accordiert.« In Kaufkraft übersetzt entspricht dieser Betrag circa 6.000 Arbeitstagen eines Tagelöhners oder 17.600 Litern Wein! Eine exorbitante Summe für zwei Gemälde. Rachel Ruysch kann es sich leisten, derartige Preise abzurufen. Sie ist 47 Jahre alt. Europaweit hat sie Abnehmer für ihre Arbeiten. Seit drei Jahren trägt sie den Titel »Hofmalerin« des Pfälzer Kurfürsten Johann Wilhelm und wohnt nicht einmal am Düsseldorfer Hof. Wie kommt es zu dieser außergewöhnlichen Karriere?
Naturtalent? Naturtalent!
Talent, klar. Das haben beide Töchter, die 1664 in Den Haag geborene Rachel und die zwei Jahre jüngere Anna, sowohl durch ihre Mutter Maria Post, in deren Familie Landschafts- und Schlachtenmaler erfolgreich arbeiten, als auch durch den Vater Frederik Ruysch (1638–1731). Dieser Pharmazeut, Mediziner und Forscher ist eine treibende Kraft in Chirurgie, Geburtshilfe und der jungen Wissenschaft der Botanik. 1666 ernennt ihn die Amsterdamer Chirurgengilde zum »Prälektor für Anatomie«, 1685 wird er Professor für Botanik und Leiter des »Hortus Medicus Amstelodamensis«. Europaweiten Ruhm gewinnt Ruysch durch seine Balsamierungstechnik mittels Wachs, Harz, Terpentin und Zinnober, die tote Körper über Jahre lebensecht konserviert: Erstmals lassen sich so innere Organe studieren. Einschlägig gelobt ist Ruyschs Naturaliensammlung: Über 4.000 Präparate belegen fünf Zimmer seines Hauses in der Bloemgracht. Das »Museum Ruyschianum« ist die Attraktion Amsterdams! Vorstellen kann man es sich dank der raumhohen Graphik von Cornelius Huijberts aus Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek. Es ist ein hohes Verdienst der Kuratoren, dass sie mit zahlreichen Objekten der Historischen Universität Marburg, der Botanischen und Zoologischen Staatssammlungen München, des Deutschen Museums und des Martin von Wagner-Museums Würzburg ein alle Sinne überwältigendes Naturalienkabinett eingerichtet haben – und so spürbar wird, welchen Rang die Erforschung des Mikro- und Makrokosmos im 17. Jahrhundert hat.
Wie diese Sammlung Rachels Naturverständnis prägt, beweisen ihre Gemälde: Neben heimischen Arten bilden sie Gewächse, Amphibien und Insekten aus aller Welt so präzise ab wie die wissenschaftlichen Grafiken und Herbarien im Museum ihres Vaters. In ihrem »Blumenstillleben in einer Vase auf einem Sims mit Libelle, Raupe und Schmetterling« aus dem Jahr 1698 leuchtet neben heimischem Mohn, Zistrose und Margariten eine Trompetenblume aus Südamerika orangerot. Blau schillert im Vordergrund ein Morpho-Falter aus Mittelamerika. 1714 setzt Rachel einen Dornschwanzleguan neben ein überbordendes »Stillleben mit Blumen und Früchten«. In natura ist dieser Leguan schwarz-grün. Rachel malt ihm blau-schwarze Streifen: Der Alkohol hatte den gelben Farbstoff aus dem Panzer der eingelegten Echse gelöst.
Während ihr Lehrer Willem van Aelst (1627–1683) Wert auf die allegorische Deutung seiner Motive legt, interessiert Rachel sich statt für »Vanitas« und »Carpe diem« für Komposition in allen Facetten. Eine »Blumen- und Früchtegirlande« der 18-Jährigen ist noch mathematisch ausgemittelt: Fünf Blüten, fünf Früchte hängen in einer (Würde-)Nische am verschlungenen Faden, flächig, matt, ohne Schwerpunkt. Bild für Bild zeigt diese erste monografische Ausstellung der Künstlerin in chronologischer Hängung, wie sich Rachels Gefühl für das Nebeneinander von Texturen, für Farbkontraste, für Mattheit versus Brillanz, für Streif- und Punktlicht, für das Mit- und Gegeneinander von Formen steigert.
Riechen, hören, schmecken
Hinzu kommt eine grenzenlose Innovationsfreude. Als erste bringt sie die behaarte Rückseite von Laub auf die Leinwand. Als erste setzt sie 1700 in ihre »Vase mit Blumen« mittig zwischen welke Rosen und Tulpen die Leerstelle eines abgeschnittenen Stängels. Dramatik baut sie auf, indem sie 1710 eine Sonnenblume gebrochen aus der Vase »fallen« lässt. Sie hält Geräusche in Öl fest, macht hörbar, wie Heuschrecken zirpen oder Eidechsenkiefer Falter zermalmen. Sie lässt geruchliche Welten aufeinanderprallen, indem sie ca. 1692 die betäubende Datura (Stechapfel) mit einer gefleckten Aasblume und duftendem indischen Oleander zum »Blumenstrauß mit Schmetterlingen« bindet.
Natürliches und Kreatürliches zu einem Kunstereignis zu formen, ist Ziel dieser »Kunstheldin« wie sie ihr Biograf Johann von Gool nennt. Es geht um Exklusivität und Exotik, um das Spiel mit dem biologischen Kenntnisstand des Käufers. Da können unter 36 Pflanzen schon mal 21 außereuropäische stehen, die aus beiden Amerikas, der Karibik, Afrika, Indien, Indonesien und Australien stammen und sicher nicht gleichzeitig blühen, so wie sie es im »Stillleben mit exotischen Früchten auf einem Marmorsims« seit 1735 tun.
Wie vertraut das Verhältnis der Hofmalerin zum Fürsten Jan Wilhelm ist, der ihre Werke prominent in seinem »deutschen Louvre« ausstellt, vermittelt Saal 4: Eine Vitrine zeigt ihren Briefwechsel mit diesem Paten ihres jüngsten Sohns. Der letzte Saal wagt den Sprung ins Heute. Eine überhohe Graslandschaft der Studierenden der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film versetzt die Besucher in die Rolle eines Krabbeltiers. Weitere Filme lassen Blumenbouquets pulsieren, atmen, wabern, ja explodieren und schleusen ein Gebilde weißer Blüten im Zeitraffer durch Hagel, Schnee und Sturm. An einem Touch-Screen darf man Ruyschs Pflanzen und Tiere per Drag & Drop zu einem eigenen Bild kombinieren. Lässt man sich das magere Ergebnis per QR-Code zuspielen, sieht man deutlich, wie ausgeprägt das Wissen der »Amsterdamer Minerva« Ruysch um Textur und Stofflichkeit, um Kontraste, um Bildaufbau war – und wie genau sie jeder Blüte Haupt- und Nebenrolle zuwies oder Statisterie. ||
RACHEL RUYSCH – NATURE INTO ART
Alte Pinakothek | Barer Str. 27 | bis 16. März | Di–Mi 10–20 Uhr, Do–So 10–18 Uhr | Audioguide gratis | Dialogführungen kunsthistorisch und restauratorisch: 4. 2., 18 Uhr; 6./13. 3., 14 Uhr | Dialogführung Kunst und Biologie: 25.2., 14 Uhr | Die schöne, aufschlussreiche Publikation (englisch, 248 Seiten, 170 Abb.) kostet im Museum 39,90 Euro | weitere Führungen und Workshops
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