Eos Schopohl inszeniert im Kopfbau des ehemaligen Riemer Flughafens Martin Sperrs Sittengemälde aus der Nazizeit »Koralle Meier«.

Koralle Meier

Erst kommt das Fressen …

koralle meier

Koralle (Sabine Zeininger) versucht mal wieder, die Genehmigung für ihren Gemüseladen vom Bürgermeister (Robert Spitz) zu bekommen © Thomas Bauer

Schon mal was von Luftwaffenmoderne gehört? Der Begriff bezeichnet einen Baustil aus der Nazizeit, der vom Architekten Ernst Sagebiel geprägt wurde: hart, kantig, mit klotzigen Steinquadern. Der Kopfbau des ehemaligen Flughafens in Riem, der 1939 fertiggestellt wurde, gehört zu diese Epoche. Und in der Nazizeit spielt auch Martin Sperrs Theaterstück »Koralle Meier«, das das heimatlose Theater dasvinzenz noch am 10. und 11. Januar dort zeigt. Viele Dramen Sperrs, der zu den Autoren des in den 60er- und 70er-Jahren aufkommenden »neuen Volksstücks« gehörte, zeigen faschistische Verhaltensmuster in der Nachkriegsgesellschaft auf. »Koralle Meier« spielt mittendrin im Faschismus. Die Titelfigur ist eine »Private«, also Prostituierte, beliebt bei der Kundschaft. Aber die Witwe, die aus Not mit dem Anschaffen anfing, will den Beruf wechseln und einen Gemüseladen mit Stehimbiss aufmachen. Bei der Aussicht auf Konkurrenz werden die Dorfhonoratioren allerdings grantig. Bürgermeister Klugbauer (Robert Spitz), der seinen Wurstsemmelverkauf gefährdet sieht, denunziert die Meier, weil sie dem jüdischen Friseur Goldbaum (Hubert Bail) Geld für die Auswanderung geliehen hat. Koralle kommt ins im Entstehen begriffene KZ, wird aber dank guter Beziehungen zum Kreisleiter und eines urdeutschen Stammbaums wieder entlassen. Als ihr die Lizenz für den Gemüseladen immer noch verweigert wird, zeigt sie den Bürgermeister wegen seiner Beziehung zur jüdischstämmigen Sekretärin Eva Korn (Katharina von Harsdorf) an und muss schmerzlich erfahren: Die Regeln des Regimes gelten nicht für jeden.

Christoph Ammer und Katharina Wohlgemuth haben im Kopfbau eine Art Kneipenkulisse geschaffen. Außer Sitzreihen gibt es kleine Tische, an denen Zuschauer*innen sitzen, während das Ensemble mitten unter ihnen spielt, sich dazusetzt oder auch mal unterm Tisch verschwindet. Im Hintergrund illustriert ein Transparent die Szene und verwandelt den Raum z.B. in ein Lager, was samt paradierender Schergen durchaus zu Beklemmung führt, während Ardhi Engls Musik vom freundlichen »Unter-unserem-Himmel«-tauglichen Bayernsound ins unschön Misstönende kippt und schließlich akustisch den Bombenkrieg heraufbeschwört.

Regisseurin Eos Schopohl kombiniert in ihrer Inszenierung des 1970 uraufgeführten Dramas Schauspiel, Musik und Tanz und lässt die Darsteller*innen von der Seite her den Handelnden Kommentare oder Warnungen zurufen wie ein Raunen im Hintergrund. Sabine Zeininger versieht ihre Koralle mit Zarah-Leander-mäßiger Divenhaftigkeit und aufbrausendem Temperament, das sich nur zähneknirschend den ungerechten Zumutungen der Gesellschaft fügt. Joviale Freundlichkeit strömt Hubert Bail als SS-Obersturmbannführer Kreisinger aus allen Poren, während er ungemein engagiert am Aufbau des KZs arbeitet. Die Männer des Dorfes gieren jederzeit nach dem Sexuellen, allen voran Spitz’ Bürgermeister, dessen stolzgeschwellte Brust fast aus der Trachtenjacke platzt. Dass Evas (Katharina von Harsdorf) nackte Angst ihr aus den Augen springt, liegt aber an etwas anderem. Alle in dieser Gesellschaft, einschließlich Joachim Bauers im Lager einsitzender Pfarrer und Koralle, sind jederzeit bereit, ihre Menschlichkeit für den kleinsten Vorteil über Bord zu werfen, ohne Rücksicht auf die Folgen für andere. Erst kommt das Fressen. Und die Moral gilt nicht für alle gleich. Die Unmenschlichkeit, die die Dorfgesellschaft prägt, der krasse Eigennutz, kommen sehr heutig daher und lassen einen schaudern.

Koralle Meier
dasvinzenz im Kopfbau Messestadt Riem | Werner-Eckert-Str. 1 | 10., 11. Jan. | 20 Uhr | Tickets: info@dasvinzenz.de | Website

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