Im Cuvilliéstheater inszeniert Miloš Lolić »Die Ärztin«, eine Schnitzler-Bearbeitung von Robert Icke.

Die Ärztin

Die Macht des Shitstorms

die ärztin

Prof. Dr. Ruth Wolff (Lisa Wagner, Mitte) im Diskussionskreis (Ensemble) © Birgit Hupfeld

Ein historisches Bühnenstück ohne Überschreibung oder Fremdtexte sieht man heute nicht mehr im Theater. Solche Aktualisierungen können sehr schiefgehen, aber auch sehr gut, wie bei der Neufassung von Schnitzlers »Professor Bernhardi« aus dem Jahr 1912. Der Brite Robert Icke schrieb »Die Ärztin« 2019, inszenierte es 2022 am Burgtheater, viele Theater spielen das Stück nach. Die diskrete, formbewusste Regie von Miloš Lolić und ein glänzendes Ensemble schaffen eine herausragende Inszenierung im Cuvilliéstheater.

Professor Bernhardi, jüdischer Direktor einer renommierten Wiener Klinik, verweigert einem katholischen Pfarrer den Zutritt zu einem sterbenden jungen Mädchen. Er will das Opfer einer illegalen Abtreibung sediert in Frieden sterben lassen. Dasselbe tut die jüdische Ärztin Prof. Dr. Ruth Wolff, Leiterin einer berühmten Forschungsklinik. Doch weil der Priester an der Schulter berührt wurde, wird daraus ein Gewaltvorwurf und ein antisemitischer Skandal wegen Religionsbehinderung. Beide weigern sich, eine politisch geforderte Entschuldigung abzugeben: Nach ihrem ärztlichen Ethos mussten sie so handeln.

Volker Thiele baute ein asymmetrisches Bühnendreieck, dessen große Fensterfront mit verschiedenen Vorhängen fließende Wechsel vom Klinikraum zu Wolffs Privatsphäre markiert. In der ersten Hälfte seiner Bearbeitung bleibt Icke ganz dicht an Schnitzlers Original. Bernhardi ist nun eine Frau, das Ärztepersonal ein wenig eingedampft. Lisa Wagner überzeugt in jeder Situation als Ruth Wolff: überlegen, sachlich, selbstsicher, manchmal etwas herablassend und autoritär, und auch stur. Eine surreale Zutat ist Charlie, ihre Lebensgefährtin.

Zerzaust und fahrig irrlichtert Sibylle Canonica dezent über die Bühne, räumt Requisiten ab, redet zu Hause mit Ruth. Sie ist ein Gespenst, denn sie hat sich vor Jahren umgebracht. Auch ein Teenie-Schulmädchen (Felicia Chin-Malenski) sucht bei Ruth Zuflucht und Vertrauen.

Aus einem antisemitischen Schneeball wird eine Mobbing-Lawine. Denn Icke packt alles dazu, was in den sozialen Medien aktuell an woken Vorwänden für einen vernichtenden Shitstorm taugt: Rassismus – der Geistliche war schwarz, was man dem Schauspieler Thomas Reisinger nicht ansieht (er spielt auch den gewalttätigen evangelikalen Vater des Mädchens). Sexismus – sie hat eine Stelle mit einer Frau statt einem Mann besetzt. Dazu noch Kolonialsprache – im Streit mit dem Pfarrer fiel das Wort »Affentheater«. In einem TV-Talk, großartig als Video gezeigt, wird Wolff von unsichtbaren Experten regelrecht gegrillt.

Wie Schnitzler entfaltet Icke virtuos den Mechanismus und die Macht der schleichenden Geistesvergiftung. Wolff lehnt jegliches Schuldeingeständnis ab. Die lavierende Ministerin Flint (Hanna Scheibe) lässt sie fallen, das Kollegium spaltet sich. Cathrin Störmer, Carolin Conrad, Delman Numan Khorschid, Patrick Isermeyer müssen Stellung beziehen – es siegt der intrigante, aalglatte Hardiman (Moritz Treuenfels). Selbst der devote Assistent (Markus Subramaniam) entpuppt sich als Verräter. Am Ende hat Wolff ihre ganze soziale Existenz verloren – und muss sich fragen, ob ihre Starrheit richtig war. ||

DIE ÄRZTIN
Cuvilliéstheater | 20. Jan. (ausverkauft, ggf. Restkarten an der Abendkasse), 12., 17. Feb. | 19.30 Uhr | Tickets: 089 21851940

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