Gejammert haben wir schon genug, geschimpft auch, und nichts würden wir lieber tun, als Ihnen ein Päckchen Hoffnung zum Jahreswechsel zu schenken. Dies ist ein Versuch. Auf die Kunst!
Es ist die Kunst, die uns den Weg weist
Überall hantieren Verrückte in der Weltgeschichte herum und verursachen mit Kriegsgeschrei Leid und Elend, Hunger und Sorge. Wie soll man angesichts dieses Wahnsinns gelassen in die nächsten zwölf Monate blicken und mantraartig vor sich hin summen: Alles wird gut? Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird nichts gut, weder interkontinental noch in unserem eigenen Land und schon gar nicht vor unserer eigenen Haustür. Wie oft waren wir in den letzten Monaten froh, in keine der unzähligen Baugruben gefallen zu sein. Gleichzeitig erleben wir die massivsten Verunsicherungen seit Jahren.
»Was ansonsten gemächlich nacheinander und nebeneinander abläuft, komprimiert sich in einem einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet: ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zufrüh oder ein Zuspät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter und bestimmt das Leben eines Einzelnen, eines Volkes und sogar den Schicksalslauf der ganzen Menschheit. Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Lauf der Geschichte.« Dies schrieb Stefan Zweig 1927 im Vorwort seiner »Sternstunden der Menschheit«. Knapp 100 Jahre später scheint es, als würden wir zu Zeugen einer Häufung derart »schicksalsträchtiger Stunden«. Oder kommt es uns nur so vor, weil sich möglicherweise viele von uns in einer Lebensphase befinden, in der wir in eine längere Vergangenheit zurück- und in eine kürzere Zukunft hineinschauen? In der wir, mehr als jemals zuvor, historische Zusammenhänge zu erkennen meinen? Die Weimarer Republik, der Tanz auf dem Vulkan, babylonische Verwirrung: alles schon mal da gewesen, mit bekanntem Ausgang.
Aber und trotzdem: Die Menschheit stand schon so oft am Abgrund und hat es doch immer wieder geschafft, das Ruder herumzureißen. Zwischen allen Krisen, Kriegen und Untergängen haben Menschen immer wieder von vorn für blühende Zeiten und Landschaften gesorgt. Man staunt, welche Kräfte da immer neu am Werk waren. Es war auch Stefan Zweig, der sagte, kein Künstler könne die Geschichte jemals überbieten. Überbieten wohl nicht. Aber vorwegnehmen sehr wohl, was später Realität wird, von der Erschaffung über die Zerstörung bis zur Auferstehung von Natur und Gesellschaft.
Deshalb wagen wir es, uns am Ende dieses irren Jahres nicht nur weitere Science-FictionRoland-Emmerich-artige Katastrophen vorzustellen. Klimakatastrophen, Kriege, Künstliche Intelligenz – wenn das eine möglich ist, dann geht auch das andere: eine Welt, in der versehrte, zerstörte Länder neu aufgebaut werden. In der Menschen leben, die sich vernünftig verhalten. Wo das Vertrauen in die Intelligenz siegt und nicht die Unterwerfung unter die Blödheit. Wo Kunst und Kultur alle Bereiche des Lebens durchdringen, wo Bildung und die Erziehung zum freien Denken zum ersten Menschenrecht für alle werden. Wir sehen, wie die Pflege von Menschen aller Altersstufen den Goldstatus erlangt, den sie verdient. Wie sich das Glück anfühlt, in einer Gesellschaft zu leben, in der jeder und jede gesehen wird. Wo es keinen gibt, der illegal ist. Wo die Menschen endlich erkennen, was es heißt, kein Tier zu sein.
Der amerikanische Diplomat George F. Kennan sagte 1955, vor 70 Jahren und mitten im Kalten Krieg: »Nur durch das Erschaffen von Schönem und durch die großen, bedeutenden Schöpfungen des Geistes ist es den Menschen gelungen, eine verlässliche Brücke zwischen den Nationen zu schlagen, selbst in den finstersten Augenblicken politischer Verbitterung, des Chauvinismus und der Überheblichkeit.« Oder Nina Chruschtschowa, Enkelin des ehemaligen sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow, im vergangenen Juli bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele: »Kunst ist prophetisch. Selbst wenn die Politik ihre Agenda noch nicht formuliert hat: Die Kunst hat sie bereits enthüllt.« In ihrer Rede, die die »Süddeutsche Zeitung« am 27. Juli 2024 in der Übersetzung von Sylvia Zirden druckte, bezog sie sich zwar auf Russland, aber ihre Gedanken gelten weltumspannend: »Kunst ist idealistisch«, stellt Chruschtschowa fest. »In einer Art alchemistischem Prozess kann ein Kunstwerk – wie ein Gemälde oder eine Skulptur, eine Symphonie oder eine Oper, ein Roman oder ein Gedicht – das Beste in uns zum Vorschein bringen. (…) Kunst ist voller Hoffnung. Sie ist sogar optimistisch. Kunst rettet die Welt jeden Tag, in jedem Jahrhundert und in jeder Generation. Kunst ist das, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind.«
In den 90er Jahren kamen in Köln Tausende von Menschen zusammen und riefen: Arsch huh, Zäng ussenander. Das ist es doch, was wir jetzt brauchen: Erinnern wir uns, dass wir kreative Wesen mit Rückgrat sind. »Kunst ist rebellisch«, sagt Chruschtschowa. Hätten die Machthaber die Lektionen gelernt, die die Kunst ihnen über vergangene tyrannische Regime offenbart hat, hätte es ihrer Ansicht nach nicht so viele Diktaturen gegeben. »Aber Herrscher sind schlechte Schüler. Sie wissen Kultur nicht zu schätzen.«
Haben deshalb so viele Politiker kein Verständnis für die Bedeutung von Bildung, Kunst und Kultur? Größer als das Interesse an einer Gesellschaft, in der es allen gut geht, ist sichtbar das Interesse am eigenen Machterhalt. Das kann schnell schiefgehen. Deshalb brauchen wir ein Bildungssystem, das Politiker hervorbringt, die sich als Dienstleister der Gesellschaft verstehen und nicht als ihre Demonteure. Besinnen wir uns umso widerständiger und eigensinniger darauf, dass wir die Welt trotz allem so erschaffen können, wie sie uns gefällt. Summen wir dazu heiter Pippi Langstrumpfs »Widewidewitt«. Oder in Nina Chruschtschowas Worten: »Es ist die Kunst, die uns in ihrer Transzendenz den Weg weist.« ||
Kommen Sie gut ins neue Jahr! Und schauen Sie gern noch einmal in unserem Kiosk vorbei.
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