Marion Hélène Weber inszeniert die Uraufführung von Matthias van den Höfels »Drinnen«.
Drinnen
Keine Frage der Moral
Es beginnt mit einem »Draußen«-Moment: Ein Augenblick der Ruhe und des Durchatmens, den Regina mit ihrem Sohn David im Park verbringt, in sicherer Entfernung von anderen Spaziergängern, denn die stören sie meist nur mit ihren Blicken und Bemerkungen. »Drinnen«, das ist der durchgetaktete, meist unsichtbare Alltag der alleinerziehenden Mutter eines mehrfachbehinderten Kindes, eine Symbiose zu zweit mit wechselnden Stimmungslagen und Pflegepersonal und einer wachsenden inneren Erschöpfung, die niemand wahrnehmen und wahrhaben will. Denn David ist mit 35 Jahren eigentlich längst erwachsen, kann aber weder sprechen noch gehen und ist rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen.
Vor einem Jahr gewann der Autor Matthias van den Höfel mit seinem subtil und realitätsnah beobachteten Familienstück »Drinnen« den Münchner Förderpreis für neue Dramatik, verbunden mit der Option einer Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Im Werkraum hat nun die junge Regisseurin Marion Hélène Weber, Absolventin der Regieklasse des Salzburger Mozarteums, eine schlicht-schlüssige Form für das komplexe Thema und mit Anette Paulmann eine leuchtende Darstellerin gefunden, die Reginas innere Disruptionen sehr nahbar und konkret aufscheinen lässt, ohne zu dramatisieren.
Nach der Maxime »nothing about us without us« müsste eigentlich David im Mittelpunkt der Inszenierung stehen. Doch das Team hat sich aus sehr nachvollziehbaren Gründen dafür entschieden, seine stumme Rolle nicht zu besetzen. Denn hier geht es in erster Linie um die Perspektive der Mutter, die vor einer großen Entscheidung steht: die selbst gestellte Aufgabe, »solange ich lebe, kommt David nicht in eine Einrichtung«, bis zur Selbstaufgabe weiterzuerfüllen oder noch einmal eine neue Wahl zu treffen, als ihr Lebensgefährte Michael (teilnahmsvoll zugewandt: Sebastian Brandes) einen interessanten Job in Peru angeboten bekommt.
Locker, fast ein wenig salopp und ganz ohne Betroffenheitskitsch werfen Stück und Inszenierung die sich kreuzenden Interessen in Reginas Leben über den Haufen, wie die ungeordneten Puzzleteile auf dem Familientisch. Dahinter hat Bühnenbildnerin Julia Bahn eine Rampe mit grünem Rasenteppich gebaut, die die Bühne im Zickzack durchschneidet, rechts ein Kühlschrank mit Kaffeemaschine, aus dem sich später noch eine kleine Lawine ergießt.
Luisa Wöllisch, inklusiv besetzt als neue Helferin im freiwilligen sozialen Jahr, die vor dem Medizinstudium nur mal kurz in der Pflege schnuppern will, trifft genau den flapsigen Ton, der Regina auf die Palme bringt, reagiert aber umso heftiger, als David ihr unversehens an den Hintern fasst. So was »passiert« eben mal, meint dagegen Pfleger Olli, verkörpert von Martin Weigel wie die freundliche Geduld in Person. Doch auch er hat noch andere Pläne in seinem Leben und bringt so Reginas mühsam austariertes Alltagsgerüst endgültig ins Wanken.
Schließlich ist es für Regina keine Frage der Moral, sondern der Kräfte und der Selbsterkenntnis, für den erwachsenen Sohn doch ein neues Zuhause in einem Heim zu suchen. Ob ihr nach dem äußeren Auszug Davids auch die innere Ablösung aus der Geborgenheit des Gebrauchtwerdens gelingt, lässt der Abend offen. ||
DRINNEN
Kammerspiele | 19., 20. Dez. | 19.30 Uhr | Tickets: 089 23396600
Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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