Mit der Bestseller-Adaption »The Outrun« zeichnet Nora Fingscheidt das packend-poetische Porträt einer Alkoholikerin.
The Outrun
Bildnis einer Trinkerin
Schon als Teenager rockte sie die internationale Filmszene, für Joe Wrights Historiendrama »Abbitte« erhielt sie – gerade einmal 13 Jahre alt – ihre erste Oscarnominierung, und 2009 drückte sie Peter Jacksons unterschätztem Thriller-Fantasy-Mix »In meinem Himmel« ihren unnachahmlichen Stempel auf. Drei zusätzliche Academy-Award-Nominierungen (»Brooklyn – Eine Liebe zwischen zwei Welten«, »Lady Bird«, »Little Women«) später liefert Saoirse Ronan eine weitere oscarreife Leistung ab.
In »The Outrun« (der Film feierte bereits im Januar auf dem renommierten Sundance Film Festival Premiere) verkörpert sie unter der Regie des deutschen Shootingstars Nora Fingscheidt (»Systemsprenger«) Rona, eine junge Frau am Abgrund, vor dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Denn Rona ist Alkoholikerin, und zwar eine hochgradige. Wenn sie, vorzugsweise in Londons Partyszene, über alle Maßen Hochprozentiges in sich hineinschüttet, dann artet das meistens aus. Rona wird aggressiv, ausfällig, brüllt herum, schlägt um sich, verletzt sich und andere. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann ist Schluss. Kollegen wenden sich von ihr ab, der überaus geduldige Freund (kleiner, aber wichtiger Part: Paapa Essiedu als Daynin) trennt sich von ihr, und auf beruflicher Ebene gibt es sowieso keine Perspektive.
Also geht es ab in ihre Heimat, auf die schottischen Orkneyinseln, die manch einer auch als das Ende der Welt bezeichnet. Doch auch in der rauen Mitte des Nirgendwo kommt Rona nicht von ihrer Sucht los. Denn der Vater (Stephen Dillane), ein Schaffarmer, ist selbst psychisch krank und daher ebenso keine große Hilfe wie die Mutter (Saskia Reeves), die sich von ihrem Mann getrennt hat und inzwischen ihre Erlösung in Gott und dem Gebet sucht. Beten? Sicher nicht Ronas Ding! Weil auch die Besuche bei den anonymen Alkoholikern und anderen Institutionen nicht wirklich fruchten, muss es eben noch drastischer sein.
Rona mietet sich den Winter über in einem abseits gelegenen Vogelwärterhäuschen ein und versucht in dieser Abgeschiedenheit sich selbst zu finden, vor allem aber: trocken zu bleiben. »The Outrun« ruht auf den Schultern eines außerordentlich begabten und kreativen Frauentrios. Während die Schriftstellerin Amy Liptrot, die auch am Drehbuch mitgewirkt hat, mit ihrer literarischen, autobiografisch verbrieften Vorlage (deutscher Titel: »Nachtlichter«) für ein Höchstmaß an Authentizität und Wahrhaftigkeit sorgt, liefert Saoirse Ronan, die sich hier auch erstmals als Produzentin eingebracht hat, ein äußerst nuancenreiches, detailgenaues und lebensechtes Bildnis einer Trinkerin ab. Nicht zuletzt auch durch einen hohen Einsatz an Körperlichkeit gelingt es ihr, die unterschiedlichen Stufen, die eine Alkoholikerin zurück in so etwas Ähnliches wie Alltag oder Normalität durchläuft, auf der Leinwand transparent und ihr Innenleben auch äußerlich sichtbar zu machen.
Eine bemerkenswerte Darbietung, die durchaus mit Nicolas Cages Meisterleistung in dem legendären Trinkerdrama »Leaving Las Vegas« aus dem Jahre 1995 vergleichbar ist. Und schließlich ist da noch Nora Fingscheidt. Nach ihrem zwischenzeitlichen Ausflug nach Hollywood, wo sie mit der Netflix-Produktion »The Unforgivable« mit Sandra Bullock in der Hauptrolle ein eher durchschnittliches Traumfabrikdebüt ablieferte, findet sie nun zu alter Stärke zurück. Und es gibt auch durchaus einige Parallelen zwischen den beiden Werken.
Wie bei ihrem Erfolgserstling »Systemsprenger« ist sie auch bei »The Outrun« als Drehbuchautorin beteiligt, hat teilweise mit Laiendarstellern gearbeitet und bedient sich eines an Dokumentarfilme erinnernden Erzählstils. Das unterstützt die Echtheit, das Wirkliche der Geschichte. Und schließlich erinnert die Figur Rona ganz stark an die wilde, brutale, unzähmbare und unerziehbare, neunjährige Benni aus Fingscheidts preisgekröntem Sozialdrama. Neu bei der Regisseurin ist der Einsatz von verschiedenen Zeitebenen. Immer wieder springt die Handlung hin und her. Mal sieht man Rona in wie Archivmaterial wirkenden Aufnahmen als Kind und Jugendliche, dann wechseln sich hart und schnell geschnittene Passagen von ausufernden Londoner Technopartys mit ruhigen, poetischen fast kontemplativ wirkenden Impressionen von Fauna und Flora der betörend schönen, aber auch sehr rauen schottischen Küstenlandschaft ab.
Und dann sind da noch die Sequenzen in der einsamen Strandhütte, in die sich Rona zurückgezogen hat und wo sie über ihr Leben reflektiert. Es ist nicht immer leicht, Fingscheidts Erzählstil zu folgen. Zeit und Raum wechseln ständig, und oftmals erkennt man nur an der Haarfarbe der Protagonistin, wo man sich gerade befindet. Dann wieder bekommen wir aus dem Off wissenschaftlich geprägte Informationen über die Tier- und Pflanzenwelt der Orkneyinseln geliefert. Das ist zum einen nachvollziehbar, schließlich ist Rona Biologin. Aber zuweilen führen diese Exkurse zu weit weg vom eigentlichen Kern der Geschichte. Dass »The Outrun« dennoch ein sehenswerter Film bleibt, liegt auch an dem perfekten Einklang von Bild und Musik. Ein Verdienst von Kameramann Yunus Roy Imer, der die klaustrophobische Enge der Londoner Partylocations mit der unendlichen Weite des schottischen Eilands visuell in Einklang zu bringen versteht. Gleiches gelingt den Komponisten Jan Miserre und John Gürtler auf der Score-Ebene, zwischen »naturbelassenen«, fast mystischen Tönen und beinhartem Techno-Beat.
Zu guter Letzt ist »The Outrun« gespickt mit kleinen Anekdoten und Sagen über Seehundbabys oder seltene Vogelarten wie den Wachtelkönig. Das nimmt dem Film etwas die Schwere. Ansonsten dominieren Aussagen wie »Ich werde nüchtern nie glücklich sein«. Oder, als Rona einen Leidensgenossen, der schon seit über zwölf Jahren trocken ist, fragt: »Wird es leichter?« – »Ja, aber nur weniger hart.« ||
THE OUTRUN
Deutschland, Vereinigtes Königreich 2024 | Regie: Nora Fingscheidt | Drehbuch: Nora Fingscheidt, Amy Liptrot | Mit: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Saskia Reeves | 118 Minuten | Kinostart: 5. Dezember | Website
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