Mit der Ausstellung »Wo die wilden Striche wohnen« blättert die Neue Sammlung einen faszinierenden Kosmos internationaler Bilderbuchillustration seit dem 19. Jahrhundert auf.
Wo die wilden Striche wohnen
Bilder-Welten
Von Astrid Lindgren ist die weise Erkenntnis überliefert: »Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade lesen lernen.« Sie hatte dabei auch die illustrierten Kinderbücher vor Augen, die die Geschichten vor allem über die Bilder erzählen.
Die Welt der Bilderbücher mit ihrer ungeheuren Vielfalt, ihrem gestalterischen Reichtum und ihrer unerschöpflichen Fantasie übt eine ganz eigene Faszination aus. Nicht wenige Erwachsene erliegen so manch schön gestaltetem Bilderbuch und können vor ihrem inneren Auge problemlos die Bibliothek ihrer frühen Kindheit abrufen: 3D-Klappbücher, in denen man richtig spielen konnte, Wimmelbücher, in deren Details man sich stundenlang verlor, Figuren wie König Babar, Tomte Tummetott und natürlich die Wilden Kerle … Ein Bilderkosmos, der ins kollektive Gedächtnis ganzer Generationen eingegangen ist.
Wer sich angesprochen fühlt, kann sich jetzt in der Pinakothek der Moderne in 170 illustrierten Büchern von 1870 bis in die Gegenwart aus 25 Ländern verlieren: In einem beeindruckenden Fundus an wertvollen Originalen, den die Neue Sammlung im Lauf der letzten 100 Jahre zusammengetragen hat. Natürlich kann nur jeweils eine Seite hinter Glas präsentiert werden, »kindgerecht« in vertikaler Hängung und lichtreduzierend in eigens konzipierten Häuschen mit Türen zum Auf und Zuklappen. Das ist natürlich schade – man würde gern weiterblättern. Und mit der dichten Hängung und stilistischen Vielfalt ist das Ganze auch visuell ganz schön fordernd. Aber immerhin, es gibt eine ganze Reihe von Zweitexemplaren zum Selber-Anschauen.
Um die Rotunde im zweiten Stock verläuft der Rundgang. Die Kuratorin Caroline Fuchs hat sich für zwei Teile mit jeweils vier Kapiteln entschieden. Teil eins chronologisch, angefangen bei der Reihe der »Münchner Bilderbücher« von 1870 und den um 1900 entstandenen aufklappbaren 3D-Bilderbüchern von Lothar Meggendorfer. Weiter geht’s in den nächsten drei Schrankgruppen quer durch alle möglichen Themen und Stile, die nicht nur die jeweilige Zeitgenossenschaft und diverse stilistische Einflüsse spiegeln, sondern auch kulturelle Eigenheiten, künstlerische Techniken und Designschulen – ein stark verdichteter Einblick in die Geschichte der Illustration bis in die Gegenwart.
Die zweite Hälfte des Rundgangs ist dann vier gestalterischen Merkmalen gewidmet: Farbe, mit frühen SchwarzweißIllustrationen, Büchern zu den Primärfarben, etwa Klassikern wie Leo Lionnis »Das kleine Blau und das kleine Gelb« (1959/62), und Farbexplosionen à la Pop Art. Zweites Thema ist Perspektive, mit Bildern von Riesen und Zwergen, Ansichten aus der Vogelperspektive wie die Escherartigen Treppenstädte in dem japanischen Bilderbuch »Michi« (1980) oder die legendären Bände »Zoom« und »ReZoom« (1995, 1998), die mit dem veränderten Blickwinkel von Nähe und Ferne experimentieren. Die dritte Kategorie umfasst die Zeichen, dazu zählen Typografie, ABCBücher, Zahlen und Formen. Und schließlich das Thema Raum mit Popup-Büchern, Büchern zum Klappen und Falten und mit Durchbrüchen wie das »Lochbuch« von 1936.
Ergänzt wird die Ausstellung durch sechs kurze Animationsfilme von Studierenden der Münster School of Design der FH Münster. Für die Wandgestaltung konnte der renommierte Illustrator Christoph Niemann (*1970) gewonnen werden, der auch sein im Kontext der Ausstellung entstandenes Kinderbuch »Draw« präsentiert. Dazu ein umfangreicher, bestens bebilderter Katalog (30 Euro), nach dessen Lektüre man Heinrich Heine zustimmen mag: »Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste«. ||
WO DIE WILDEN STRICHE WOHNEN. BÜCHER UND ILLUSTRATIONEN FÜR KINDER
Die Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne | Barer Straße 40 | bis 26. Januar 2025 | Di–So 10–18, Do 10–20 Uhr | 21. Dez. / 18. Jan., 15.30–16.30 Uhr: BilderBuchZeit. Vorlesestunde in der Ausstellungweitere Termine
Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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