Während Münchens klamme Kassen den städtischen Kulturinstitutionen finanziell schwere Bauchschmerzen bereiten, ist von Kürzungen bei den Bayerischen Staatstheatern noch nichts durchgedrungen. Das Residenztheater geht die Saison mit zwei Klassikern, Shakespeares »Sommernachtstraum« und Ibsens »Wildente«, an. Highlight ist aber ein absurdes Denkspiel im Marstall.
Premieren am Residenztheater
Und oder oder…
Albtraum, Wunder Lebenslügen
Beim Lesen kann man sich nicht vorstellen, wie man diesen Text von Nele Stuhler inszenieren will. Der vollständige Titel »Und oder oder oder oder und und beziehungsweise und oder beziehungsweise oder und beziehungsweise einfach und« (das heißt wirklich so!) lässt ahnen, dass es immer so weitergeht mit Dichotomien und zunehmend komplexeren Gegensatz-Wortpaaren. Aber Nele Stuhler hat ihre Textpartitur zusammen mit dem Regisseur FX Mayr für die StückeWerkstatt der Mülheimer Theatertage entwickelt, und FX Mayr macht im Marstall daraus ein kleines Theaterwunder. Mit einem Minimum an Ausstattung (Bühne und Kostüme: Korbinian Schmidt) und dem fabelhaften Trio Robert Dölle, Pia Händler und Myriam Schröder zaubert er in seiner Uraufführung 90 Minuten subtile Komik mit clownesken Anklängen auf die Bühne.
Links ein runder Teppich, rechts ein schwebender Leuchtkasten. Robert Dölle, Pia Händler und Myriam Schröder tragen Tisch und Stühle herein, lesen aus Textbüchern. Ihre Gesichter sind zweifarbig geschminkt. Aus einfachen Wortpaaren wie Ja – Nein, Da – Weg, Rein – Raus werden kompliziertere, ohne Textbuch. Ist Hass das Gegenteil von Liebe, oder doch eher Gleichgültigkeit? Ist es cool oder doof, im Wald in eine Tüte zu kacken? Ein Regen stört, rein, raus für die Darsteller*innen. Sie breiten Landkarten aus, diskutieren über Schrifttafeln, was witzig ist und was ernst. Pia Händler schleppt auf dem Rücken ein Redepult herein, an dem sie leidenschaftlich und verzweifelt über Freiheit und Verantwortung grübelt. Aus scheinbarem Unsinn erwachsen Sinnfragen. Das ist nicht spitzfindig sophistisch, sondern Anregung zum Nachdenken. Sind wir klug und ihr doof? Oder umgekehrt, weil ihr das denkt? Etwas Dada, eine Bachmann-Anspielung, mal jandlt es. Ein Riesentuch an der Rückwand mischt sich ins Spiel. Den wunderbaren Schauspieler*innen schaut man gebannt zu und verstrickt sich immer mehr in die klugen Denkspiele der Autorin. Rundum ein Vergnügen.
UND ODER ODER …
Marstall | 5., 22., 30. Nov. | 20 Uhr
Weitere Kritiken von Gabriella Lorenz zu Premieren am Residenztheater finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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