Mit den zwei Uraufführungen »Mia san mia« und »Sie kam aus Mariupol« eröffnen die Kammerspiele die neue Spielzeit.
Mia san mia / sie kam aus Mariupol
Auf nach Woanders
Mia san mia
Sehr grotesk, aber gar nicht heiter kreisen der chilenische Theatermacher Marco Layera und sein deutscher Co-Autor Martin Valdés-Stauber (bis 2023 Dramaturg an den Kammerspielen) das Thema Heimat und Identität ein. Regisseur Layera zeigte mit seiner 2008 gegründeten Kompanie La resentida in München bereits die Produktionen »Oasis de la impunidad« und »La posibilidad de la ternura«. Die Uraufführung seines Stückes »Mia san mia« inszenierte er nun mit Schauspielern der Kammerspiele. »Eine bayerische Space Odyssey« (so der Untertitel) hat eine Familie unternommen, denn in der Heimat ist inzwischen alles verboten, was für sie Brauchtum bedeutet: Patriarchat, Fleischverzehr, Biertrinken auf dem Oktoberfest. Auf einem unwirtlichen Wanderplaneten pflegen sie ihre Traditionen. Man darf an die deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile denken, die heute Villa Baviera heißt. Und hier wie dort kommen Touristen wie Lina, die etwas über die Kultur ihrer bayerischen Oma erfahren will.
An einer Strickleiter hangelt sich das spanischsprachige Paar Carolina de la Maza und Pedro Munoz (beide haben auch choreografiert) ins Dunkel herunter, Felsbrocken liegen rum, ein Voralpen-Papp-häuschen mit Gardinen und Geranien schwebt herab (Bühne + Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes). Seine Bewohner gleichen Zombies in Lederhosen und Dirndl: bleich, fast kahl, ausgemergelt. Sie bewegen sich ruckartig und abgehackt wie Roboter, die Musik von Andrés Quezada klingt genauso ge- und zerstört. Eine Familie zum Gruseln: der Nazi-Großvater (Walter Hess), seine Tochter (Wiebke Puls), die mit harter Hand und hartem Herzen das Regime führt über die zwei degenerierten, depravierten Söhne (Bernardo Arias Porras und Elias Krischke). Den Touris zeigen sie ihre Rituale: einen quälenden Rundtanz um einen giftgrünen Maibaum und ein exzessives Wiesn-Besäufnis – grausig-komisch mit Theaternebel in Maßkrügen und Rülpsorgien. Alles geboten: familiärer Inzest (der Fall Fritzl!), Blut und Boden, Faschismus-Horror im All.
Die Touris sind lästig, bringen aber Zuwachs und Frischfleisch: Der betrunken tanzende Pedro weckt Jagdinstinkte. Ihn erlegt ausgerechnet der Forscher (Frangiskos Kakoulakis), der den Planeten zur Müllhalde erklären soll. Das bringt neue Lebenskraft, Carolina und der Forscher wollen zum »Mia« gehören, und es geht sogar die Sonne auf. Die hochartifiziellen Schauspieler-Leistungen, vor allem von Wiebke Puls, sind einfach stupend. Aber Feingeister und Ästheten dürften sich in dieser Dystopie nicht wohlfühlen.
Sie kam aus Mariupol
Beim Namen Mariupol denkt man heute sofort an den Krieg in der Ukraine. Aber damit hat der 2017 preisgekrönte Erfolgsroman von Natascha Wodin nichts zu tun. Wodin wurde 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter und Displaced Person in Fürth geboren. Ihre Mutter Jewgenia war abwesend und verschlossen, sprach oft davon, sich im Fluss zu ertränken und tat es 1956 wirklich. Da war Natascha zehn. Herkunft und Schicksal der Mutter zu ergründen, wurde für sie zur Lebensaufgabe. Ihre Recherchen mündeten in ein weit verästeltes Familienporträt. Der 38-jährige Regisseur Stas Zhyrkov, der in Kyiv ein Theater leitet und im deutschen Exil lebt, hat eine knapp zweistündige Theaterfassung von Pavlo Arie und dem Ensemble inszeniert.
Dafür reicht die Vorbühne: links ein Schreibtisch vor weißer Wand für die lesende Natascha, rechts ein Haus aus transparent-weißer Gaze, in dem Personen erscheinen oder verschwinden (Bühne + Kostüm: Jan Hendrik Neidert & Lorena Diaz Stephens). Es ist auch Projektionsfläche für Fotos und Namen. Zhyrkov hat die Personen auf vier Schauspieler*innen reduziert. Johanna Eiworth als erwachsene Natascha vertritt ihr Anliegen mit großer Dringlichkeit, sie spricht wie auch die anderen meist mit pathetischem Überdruck, quasi in Großbuchstaben. Ihr Alter Ego als Kind verkörpert wunderbar Annika Neugart, die auch die Rolle der Tante Lidia übernimmt, einer Sängerin, die als Lehrerin im sibirischen Exil endete. Neugart und Konstantin Schumann sind erfrischende Ensemble-Zugänge von der Falckenberg-Schule: Schumann spielt alle männlichen Parts – den posttraumatisch schwer gestörten Vater mit unkontrollierten Zuckungen, den Großvater und einen jungen Hilfsrechercheur. Michaela Steiger steht als traumatisierte Mutter meist unnahbar herum und blickt elegisch in die Ferne. Ihr Mantra »Wenn Du gesehen hättest, was ich gesehen habe« blockt jede Annäherung ab.
Sie und ihr Mann wurden mit falschen Versprechungen als Zwangsarbeiter ins NaziDeutschland gelockt, quasi versklavt und kaserniert, blieben auch nach dem Krieg ausgegrenzt und unerwünscht, während sie in Russland als Kollaborateure galten. Nataschas Suche nach der verschlungenen Familiengeschichte verzweigt sich immer mehr, und weil meist eben nur erzählt wird, verliert man das Interesse. Mangels Spannung und Dynamik wird einem irgendwann egal, wer dieser Onkel oder jener Cousin ist. Der Pathos-Druck weicht am Ende einem gefühlig-sentimentalen Ton. Schade um einen ehrenwerten Versuch historischer Aufarbeitung. ||
MIA SAN MIA
26., 28. Nov | 20 Uhr | Kammerspiele | Tickets: 089 23396600
SIE KAM AUS MARIUPOL
13. Nov., 21. Dez. | 20 Uhr
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