In einer einzigartigen Sammlung von Zinnfiguren im Germanischen Nationalmuseum ist das 19. Jahrhundert en miniature zu sehen.
Mikrowelten Zinnfiguren
Weltausstellung
Eine Frau rührt im Kochtopf, eine andere wickelt ihr Baby, die nächste gießt Blumen. »Haushaltstätigkeiten« heißt der Schaukasten, der elf weibliche Zinnfiguren zeigt. In einem anderen ist die Schlacht im Teutoburger Wald nachgestellt, Bogenschützen hier, Nahkampf dort und dazwischen heranstürmende Reiter. Nicht weit davon entfernt eine Vitrine, in der die kleinen Figuren aus Zinn die Geschichte vom störrischen Suppen-Kaspar aus dem »Struwwelpeter« illustrieren.
»Mikrowelten Zinnfiguren. Die Sammlung Alfred R. Sulzer« ist der Titel einer Sonderausstellung im Germanischen Nationalmuseum, die die Besucher in das »lange 19. Jahrhundert« (Eric Hobsbawm) mitnimmt. Tief taucht man ein in die Zeit zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Es ist die Welt des Adels und des Bürgertums, die hier in vielen Szenen aus dem Alltagsleben lebendig wird. Man begegnet ihnen beim Flanieren in einem Englischen Garten, bei der Jagd und beim Besuch eines Zirkus.
Als Besucher kann man sich mitunter einfach nur erfreuen an den Miniaturwelten, den Blick beim Rundgang hierhin und dorthin schweifen lassen und erstaunliche Entdeckungen machen: etwa wie in dem erwähnten Zirkus ein Pferd mit Essenslatz um den Hals an einem Tisch Platz genommen hat und aus einem Becher trinkt. Eine wirklich artistische Dressurnummer. Doch die wenigsten der über 100 Szenarien in den prächtig ausgeleuchteten Vitrinen sind so harmlos und unschuldig. Spielzeug, das macht die von Claudia Selheim, Leiterin der Sammlungen Volkskunde, Spielzeug und Judaica, federführend kuratierte Ausstellung wieder einmal mehr deutlich, vermittelt seinen jungen Benutzern und Benutzerinnen immer auch Werte, Normen und Gesellschaftsbilder. Das war früher so, das ist heute so. Es dient der Bildung und Erziehung des Nachwuchses. In den Worten des Generaldirektors des Germanischen Nationalmuseums, Daniel Hess: »Zinnfiguren lassen Weltbilder und Weltanschauungen vergangener Jahrhunderte aufleben.«
Die pädagogische Absicht ist bei den eingangs erwähnten Exponaten besonders ersichtlich. Da werden Bürgerstöchter mit den um 1850 entstandenen Frauenfiguren der Fürther Firma J.C. Allgeyer auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitet. Da vermittelt die Nürnberger Werkstatt Heinrichsen im Jahr 1882 mit dem Zinnfiguren-Set der Varusschlacht den Heranwachsenden auf spielerische Weise einen der Gründungsmythen der deutschen Nation. Überhaupt wimmelt es in der Ausstellung nur so von kämpfenden Rittern und berittenen Soldaten. Erziehen und Strafen wiederum spielt eine zentrale Rolle in Heinrich Hoffmanns Kinderbuch »Der Struwwelpeter«, das der ebenfalls in Nürnberg ansässigen Firma Georg Spenkuch um 1900 als Vorlage für eine vielteilige Zinnfigurenserie diente.
Allein diese Beispiele zeigen, dass die bedeutendsten Produktionsstätten für das Spielzeug aus Zinn in Franken lagen, dem industriellen Herzen im damaligen Bayern. Die mit Schiefergussformen hergestellten Rohlinge wurden anschließend in Heimarbeit bemalt und waren keineswegs nur für den hiesigen Markt gedacht. Im Gegenteil, sie waren Exportschlager. Allein um die 40 Millionen Stück wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert für den nationalen wie internationalen Markt hergestellt. Das erklärt dann auch ein Set wie »Pleasure at the sea side Brighton«, das das lebhafte Treiben in dem englischen Seebad nachstellt, Badekarren inklusive.
Die Sonderausstellung, die noch bis Ende Januar 2025 läuft, wurde nur möglich, weil der Schweizer Alfred R. Sulzer, einer der weltweit führenden Sammler von Zinnfiguren, seinen in über sechs Jahrzehnten angehäuften Schatz dem GNM kürzlich als Schenkung überlassen hat. Sulzers Sammlung umfasst mehr als 145 000 Spielzeugfiguren und ist damit eine echte Bereicherung für die ohnehin bedeutende Spielzeugsammlung des Hauses. Die ästhetisch schönsten und (kultur-)historisch aussagekräftigsten Stücke sind nun in der Ausstellung versammelt.
Am deutlichsten wird das in einem scharfen Kontrast an ihrem Ende. In einem Kabinett auf einer Seite des Raumes sieht man Königin Victoria und Prinz Albert in einer Kutsche auf der Londoner Weltausstellung von 1851 vorfahren. Allein der Kristallpalast aus Zinn im Hintergrund hat eine stolze Länge von 130 Zentimetern. Direkt gegenüber wird man dann mit der noch längst nicht aufgearbeiteten Kolonialgeschichte Deutschlands konfrontiert. Zinnfiguren sind immer auch Spiegel ihrer Zeit und trugen ganz selbstverständlich rassistische Stereotype in die damaligen Kinderzimmer. Das Spiel-Set »Die deutsche Flagge in Afrika« feiert die deutsche Inbesitznahme der Kolonie Kamerun im Jahre 1884 und hinterlässt beim Herausgehen ein beklemmendes Gefühl. ||
MIKROWELTEN ZINNFIGUREN. DIE SAMMLUNG ALFRED R. SULZER.
Germanisches Nationalmuseum | Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg | bis 26. Januar 2025 | Di–So 10–18 Uhr, Mi bis 20.30 Uhr | Führung: 24.8./29.9., 14 Uhr | KuratorinnenFührung: 15.9./27.10, 11.15 Uhr | Katalog im Verlag des Germanischen Nationalmuseums (288 S., 180 Abb.) 38 Euro
Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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