Herzlichen Glückwunsch! Die Internationale Jugendbibliothek feiert ihren 75. Geburtstag. Wir schauen etwas zurück in die Geschichte.
Internationale Jugendbibliothek
Danke, Mrs. Lepman!
Mrs. Lepman leiste dermaßen hervorragende Arbeit, dass alle ihren grandiosen Einsatz für selbstverständlich halten, lobt sie der Colonel der Infanterie B.B. McMahon, Leiter der »Information Control Division« am 2. Januar 1947. Die »Information Control Division« ist die Zensurabteilung der amerikanischen Besatzungsbehörden in Bayern. Ihr Ziel ist die Redemokratisierung der Abermillionen, die Hitler an die Macht gebracht und dort gehalten hatten und die sich nun, hungrig durch Trümmerlandschaften schleichend, für Opfer der alliierten Bombardements hielten.
Doch wer ist diese Mrs. Lepman, die für die »Neue Zeitung« schreibt und stellvertretende Redakteurin der Illustrierten »Heute« ist? Die 55-jährige Witwe und Mutter zweier erwachsener Kinder spricht makelloses Hochdeutsch in scharfer, hoher Stimmlage und kennt eine Menge Menschen, die wie sie von ebendiesen »Opfern« ins Exil getrieben wurden: Theodor Heuss, der erster Bundespräsident der Bundesrepublik werden wird, die Politikerin und Schulgründerin Elly Heuss-Knapp, den Wirtschaftsminister Reinhold Maier, den die Alliierten 1945 als Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden einsetzen, den Nationalökonomen Alfred Weber, die Frauenrechtlerin Marianne Weber, den späteren Staatssekretär und Verlagsbuchhändler Konrad Wittwer etc. Von der amerikanischen Militärregierung wird Lepman als »Special Adviser for Women’s and Youth Affairs« im Rang eines Majors verpflichtet.
Ihre Verbindungen sammelt die Stuttgarterin Jella Lepman als engagierte Demokratin in der linksliberalen DDP, während der Weimarer Republik und als erste weibliche Redakteurin des »Stuttgarter Neuen Tagblatt«, bis sie als Jüdin über Italien nach England flüchtet. Die Rückkehr aus dem Exil fällt ihr schwer. Sie weiß, wie der Nationalsozialismus funktioniert: Ihre Studie »Women in Nazi Germany«, die sie unter dem Pseudonym Katherine Thomas 1943 in London veröffentlicht, erfasst den Militarismus der deutschen Frauen, ihren Hass auf die Weimarer Republik, ihr Einverständnis damit, als Gebärmaschinen für Soldaten Heldinnen zu sein. Schnell stellt sich heraus, dass diese Frauen trotz aller Verluste unfähig zur Reue und unempfänglich für demokratische Ideale sind. Jella Lepman richtet ihre »ReEducation« also auf die Heranwachsenden. Im Bad Homburger Hauptquartier der Alliierten schlägt sie vor, eine Kinderbuchausstellung zu veranstalten: Bücher mit friedlichen, kindgerechten Geschichten sollten den Jugendlichen Empathie, Pazifismus und Demokratie vermitteln. In ihren Erinnerungen, die sie unter dem Titel »Die Kinderbuchbrücke« 1964 veröffentlicht, schildert sie humorvoll, wie sie dieses Mammutprojekt unter Umgehung vieler administrativer Vorschriften mithilfe von Bücherspenden aus dem ehemals verfeindeten Ausland in kürzester Zeit zuwege bringt.
Schon im Juni 1946 ergeht die Einladung zur ersten internationalen Nachkriegsausstellung in Deutschland. Ausgerechnet im »Weißwursttempel«, den Hitler der »Deutschen Kunst« gewidmet hatte, zeigen 14 Länder, von Kanada bis hin zum Fernen Osten, ihre Bücherschätze. Die Ausstellung ist ein durchschlagender Erfolg. Die Besucher finden Geschichten vor, die die Zensur ihnen zwölf Jahre lang vorenthalten hatte, sie entdecken Autoren und Autorinnen (wieder), deren Bücher auf dem Königsplatz in Flammen aufgingen, weil bunte Umschläge und farbige Illustrationen schöner sind als dünne Makulatur mit martialischen Texten und Zeichnungen. Die etwa 4000 Bücher wandern weiter nach Stuttgart, Frankfurt, Berlin-Schöneberg, Hannover, Braunschweig und Hamburg. Geschätzt eine Million große und kleine Besucher erleben, wie die Welt wieder nach Deutschland kommt.
Im Schnitt habe die Ausstellung nicht weniger als 30 000 Besucher angezogen, selbst im tiefsten Winter und unter schwierigsten Bedingungen, schreibt Jella Lepman in einem auf Englisch verfassten Memorandum am 31. Mai 1947. Es trägt den Titel »International Youth Library«, denn eines ist ihr klar: Diese Bücher sollten nach Ausstellungsende nicht in Kisten lagern! Unermüdlich wirbt sie bei der UNESCO für ihr Folgeprojekt, den Aufbau einer Internationalen Jugendbibliothek, gemeinschaftlich finanziert von den Ländern der UNESCO. Achtung Spoiler: Diese Internationale Jugendbibliothek, die seit 1983 in der malerischen Blutenburg in Obermenzing sitzt, feiert nun ihr 75. Jubiläum, obwohl die UNESCO das Anliegen damals abgeschlagen hat!
Es ist die amerikanische Rockefeller-Foundation, die Mrs. Lepman 1948 zu einer Vortragsreise in die USA einlädt. Sie besucht ihren Präsidenten, den Erziehungswissenschaftler Robert Havighurst in New York, besucht in St. Louis Freihandbibliotheken, damals in Deutschland verpönt, kontaktiert Jugendorganisationen, Kinderbuchverleger, trifft Mildred Batchelder in der American Library Association, die ihr ganz neue Vorstellungen von Bibliotheken vor Augen führt, keine »trockene Ansammlung von Büchern«, sondern lebendige Veranstaltungsorte, Malateliers, Orte zum Plattenhören, Räume für Diskurs und Diskussion. Ihr Gedanke der internationalen Verständigung durch Kinderbücher stößt allenthalben auf offene Ohren, auch auf die der Politikerin Eleanor Roosevelt: Sie setzt sich bei General Lucius Clay in Berlin für das Bibliotheksprojekt ein und sorgt mit ihrer viel gelesenen Zeitungskolumne »Food for Thought« für öffentliche Unterstützung.
Im Dezember 1948 gründet Jella Lepman den »Verein der Freunde der Internationalen Jugendbibliothek«. Seine Mitgliederliste liest sich wie ein Who is Who der Nachkriegszeit: darunter der kommissarische OB von München Franz Stadelmayer, Buchhändler Josef Söhngen, der wegen seiner Verbindungen zur Weißen Rose sechs Monate Haft erduldet hatte, der Pädagoge Anton Fingerle, Gustav Hofmann, Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek, die Autorin Luiselotte Enderle, die Wissenschaftlerin und Politikerin Hildegard Brücher und der Physiker und Rektor der LMU Walther Gerlach.
Das ideale Quartier hat Mrs. Lepman zwischen Münchens Ruinen längst ausgemacht: eine Gründerzeitvilla in der Kaulbachstraße 11a, heute verborgen von den Neubauten der »Stabi«. Im Frühling 1949 schließlich genehmigt die Rockefeller-Foundation den ersehnten »Grant«: 22.000 Dollar! Und schon am 14. September eröffnet das Haus – als Freihandbibliothek, mit Malatelier unterm Dach, mit Vorlesestunden, Bilderbuchzimmer, Fremdsprachenunterricht, Diskussionsrunden, Buchbesprechungszirkel, einer Theatergruppe, Ausstellungen und einem anspruchsvollen Veranstaltungsprogramm mit Gästen wie Erika Mann, Thornton Wilder, Martin Buber, Carl Zuckmayer, Lisa Tetzner, Erich Kästner und anderen. Dieses Konzept hat sich bis heute erhalten.
Jella Lepman steht der IJB bis 1957 vor und vernetzt sie weltweit, indem sie das »International Board on Books for Young People« (IBBY) gründet, Wanderausstellungen von Bildern organisiert, Werksbibliothekare aus der Industrie genauso empfängt wie Autor*innen und Verleger*innen, Tagungen und Kongresse veranstaltet und besucht. Ihre jährlichen Weihnachtsausstellungen von Neuerscheinungen werden die Wurzel der Internationalen Kinderbuchmesse in Bologna. Friedensarbeit und Demokratiebildung gehören noch heute zu den Säulen der IJB, die inzwischen weltweit die größte Bibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur ist. Höchste Zeit für ein »Danke, Mrs. Lepman!«. ||
ÖFFENTLICHE JUBILÄUMS-TAGUNG ZUR IJB-GRÜNDERIN JELLA LEPMAN
4. bis 5. September | um Anmeldung wird gebeten unter anmeldung@ijb.de
FAMILIENFEST IM SCHLOSSHOF – EINE KINDER-RALLYE ZUM THEMA »ACHTUNG ACHTUNG! RETTET DIE KINDERBUCHSTARS«
15. September | 11 – 17 Uhr | Die Internationale Jugendbibliothek hält alle Veranstaltungen im Schloss Blutenburg, Seldweg 15, ab | Website
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